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[An Felice Bauer]
[Prag; Datum fehlt]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

Gnädiges Fräulein!
Eben hatte ich einen Weg zur Statthalterei, ging langsam hin und zurück, es ist eine hübsche Entfernung, man geht über den Fluß auf das andere Moldau-Ufer. Ich hatte mich damit abgefunden, dass heute kein Brief mehr von Ihnen kommt, denn bisher dachte ich, wenn er nicht gleich früh kommt, kann er nicht mehr kommen. Ich bin während der letzten zwei Tage aus verschiedenen Gründen ein wenig traurig und zerstreut und blieb auf dem Rückweg in der Belvederegasse stehn - auf der einen Straßenseite sind Wohngebäude, auf der andern die ungewöhnlich hohe Mauer des Gräflich Waldsteinischen Gartens - nahm, ohne viel zu denken, Ihre Briefe aus der Tasche, legte den Brief an Max, auf den es mir gerade nicht ankam und der zu oberst lag, zu unterst und las paar Zeilen Ihres ersten Briefes. Gewiß waren es zum großen Teil Schlafbewegungen, denn ich schlafe sehr wenig und fühle das, ohne eigentlich müde zu sein. Und nun komme ich ins Bureau und da liegt der unerwartete Brief in der prachtvollen Größe Ihres Briefpapiers und mit dem erfreulichsten Gewicht.
Wieder ist es keine Antwort, die ich schreibe, lassen wir Frage und Antwort sich verfitzen nach Belieben, über allem Schönen Ihres Briefes das Schönste ist die Erlaubnis, Ihnen schreiben zu dürfen, wann ich will. Denn schließlich dachte ich, es wäre vielleicht Zeit, mit dem Schreiben in seiner täglichen Wiederholung aufzuhören, in dieser Hinsicht kenne ich Sie nicht, vielleicht ist Ihnen die tägliche Erscheinung des Briefes peinlich, ich aber bin in meiner über mein ganzes Wesen ausgebreiteten Unpünktlichkeit darauf versessen, Ihnen, gerade Ihnen ohne Widerstand zu schreiben. Jetzt aber habe ich meine Erlaubnis, ich kann tun was ich will, und ebenso wie ich ohne Antwort wieder schreiben darf, habe ich die Hoffnung, falls ich unfähig sein sollte zu schreiben, trotzdem aus Gnade doch einen Brief zu bekommen, da ich ihn doch dann doppelt nötig habe.
Heute nur auf eines Antwort. Weg mit dem Pyramidon und allen solchen Dingen! Auf die Gründe der Kopfschmerzen losgehn, statt in die Apotheke! Schade, dass ich nicht eine längere Zeit Ihres Lebens überblicken kann, um zu wissen, wo der Beginn der Kopfschmerzen steckt. Ist Ihnen das Gefühl des Künstlichen, das solche Mittel in ihrer besten Wirkung noch haben, nicht unerträglicher als die Kopfschmerzen, mit denen man wenigstens von der Natur geschlagen ist. Im übrigen gibt es nur Heilung von Mensch zu Mensch, so wie es Übertragung von Leid nur von Mensch zu Menschen gibt, wie es in diesem Fall mit Ihren Kopfschmerzen und mir geschieht. Leben Sie wohl und bleiben Sie mir freundlich.

Ihr Kafka


Datum fehlt: Möglicherweise der 28. Oktober 1912, Montag (Vgl. Kafkas Kritik an Pyramidon in diesem Brief und die neuerliche Erwähnung dieses Medikaments im Brief vom 29. Oktober 1912).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at