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[An Felice Bauer]
[Prag, 16. November 1912; Samstag]

15. XI. 12

Liebste, nicht so quälen! nicht so quälen! Du läßt mich auch heute, Samstag, ohne Brief, gerade heute, wo ich dachte, er müsse so bestimmt kommen wie es Tag wird nach der Nacht. Aber wer hat denn einen Brief verlangt, nur zwei Zeilen, ein Gruß, ein Briefumschlag, eine Karte, auf vier Briefe hin, dieses ist der fünfte, habe ich noch kein Wort von Dir gesehn. Geh', das ist nicht recht. Wie soll ich denn die langen Tage verbringen, arbeiten, reden und was man sonst von mir verlangt. Es ist ja vielleicht nichts geschehn, Du hattest nur keine Zeit, Theaterproben oder Vorbesprechungen haben Dich abgehalten, aber sag nur welcher Mensch kann Dich abhalten, an ein Seitentischchen zu treten, mit Bleistift auf einen Fetzen Papier "Felice" zu schreiben und mir das zu schicken. Und für mich wäre es schon so viel! Ein Zeichen Deines Lebens, eine Beruhigung in dem Wagnis, sich an ein Lebendiges gehängt zu haben. Morgen wird und muß ja ein Brief kommen, sonst weiß ich mir keinen Rat; dann wird auch alles gut sein und ich werde Dich dann nicht mehr mit Bitten um so häufiges Schreiben plagen; wenn aber morgen ein Brief kommt, dann ist es wieder unnötig, dich Montag früh mit diesen Klagen im Bureau zu begrüßen; aber ich muß es, denn ich habe, wenn Du nicht antwortest, das durch keine Vernunft zu beseitigende Gefühl, dass Du Dich von mir abwendest, mit andern sprichst und an mich vergessen hast. Und das soll ich vielleicht stillschweigend dulden? Auch warte ich nicht zum ersten Mal auf einen Brief von Dir (wenn auch immer wie ich überzeugt bin ohne Deine Schuld) der beigelegte alte Brief beweist es.

Dein

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at