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[An Felice Bauer]
[Prag, 14. November 1912; Donnerstag]

14. XI. 12

Liebste, Liebste! Wenn es so viel Güte in der Welt gibt, dann muß man sich nicht fürchten, muß nicht unruhig sein. Dein Brief kam - ich saß bei meinem Chef und wir besprachen die Versicherung der Felspatgruben - da packte ich den Brief wieder mit dem alten Händezittern und sah den Chef wie eine Erscheinung an. Aber kaum hatte ich ihn zwei- dreimal gelesen, war ich so ruhig, wie ich es mir schon lange gewünscht und worum ich vor 3 Tagen in der Nacht gebetet habe. Dein Umschlag - (das ist falsch, der Umschlag soll es heißen, aber das Du und Dein will sich immerfort sehen lassen) - der Umschlag mit den Beruhigungszeilen kann es nicht bewirkt haben, denn die habe ich erst später gelesen und was in dem Briefe stand, das hätte mich doch schütteln müssen, denn je mehr man bekommt, desto mehr muß man sich fürchten auf dieser rollenden Erde - es kann also nur das Du gewesen sein, das mich festgehalten hat, dieses Du, für das ich Dir auf den Knien danke, denn die Unruhe um Dich hat es mir abgezwungen und nun gibst Du es mir ruhig wieder zurück. Du Liebste! Kann ich jetzt Deiner sicher sein? Das "Sie", das gleitet wie auf Schlittschuhen, in der Lücke zwischen 2 Briefen kann es verschwunden sein, man muß dahinter her jagen mit Briefen und Gedanken am Morgen, am Abend, in der Nacht, das Du aber, das steht doch, das bleibt wie Dein Brief da, der sich nicht rührt und sich von mir küssen und wieder küssen läßt. Was ist das für ein Wort! So lückenlos schließt nichts zwei Menschen aneinander, gar wenn sie nichts als Worte haben wie wir zwei.
Ich war heute der ruhigste Mensch im Bureau, so ruhig, wie es nur der Strengste nach einer Woche wie der letzten von sich verlangen kann. Ich werde Dir noch von ihr erzählen. Ja denke nur, ich sehe sogar gut aus, es gibt im Bureau immer einige Leute, die sich ein Gewerbe daraus machen, mein Aussehen täglich zu überprüfen. Diese also sagten das. Ich hatte keine Eile, Dir zu antworten (was übrigens heute ganz unmöglich war) aber es war kein Zucken in mir, das Dir nicht unaufhörlich antwortete und dankte.
Liebste, Liebste! Das Wort wollte ich seitenlang aneinanderreihen, wenn ich nicht fürchtete, dass es nicht verborgen bleiben könnte, was Du liest, wenn jetzt jemand in Dein Zimmer treten würde, wenn Du dabei wärest, die so einförmig beschriebenen Seiten zu studieren. Gestern habe ich Dir nur paar Zeilen geschrieben, Du wirst sie erst Sonntag bekommen. Es würde mir Mühe machen, sie jetzt zurückzuholen, aber es ist auch unnötig; ich erwähne es nur, damit Du nicht unnötig erstaunst - Dich zum Erstaunen zu bringen, daran habe ich es ja bis jetzt wirklich nicht fehlen lassen - es sind paar Zeilen ohne Datum, Überschrift und Unterschrift und sie wollten in jammervoller Unsicherheit eine Wiedereroberung versuchen. Schau sie freundlich an!
Aber sag nur, woher weißt Du, dass das, was ich Dir hie und da in der letzten Zeit geschrieben habe, Qual und nicht Irrsinn gewesen ist. Es sah aber doch sehr nach dem letzten aus und ich hätte mich an Deiner Stelle nach Kräften beeilt, die Hand davon zurückzuziehn. Der letzte Brief z.B., der war nicht geschrieben, der war - verzeih den Ausdruck - erbrochen; ich lag im Bett und er fiel mir nicht in der Folge der Sätze ein, sondern als ein einziger, in schrecklicher Spannung sich befindlicher Satz, der mich töten zu wollen schien, wenn ich ihn nicht niederschrieb. Als ich dann wirklich schrieb, war es nicht mehr so arg, ich suchte schon mehr zusammen, folgte den Erinnerungen und strichweise gingen schon kleine tröstliche Unwahrheiten durch den Brief. Aber mit welcher Leichtigkeit trug ich ihn auf die Bahn, mit welcher Eile warf ich ihn ein, wie ging ich nachhause als ein unglückseliger, aber schließlich doch lebendiger Mensch, bis mich wieder die fürchterlichen zwei Stunden vor dem Einschlafen zu anderer Besinnung brachten.
Nichts mehr davon. Ich werde wieder Deine Briefe bekommen, schreib, wann Du willst oder besser wann Du kannst, halte Dich nicht im Bureau meinetwegen bis in den Abend auf, ich werde nicht leiden, wenn kein Brief kommt, denn wenn dann wieder einer kommt, wird er mir unter der Hand lebendig werden wie es noch - scheint mir - keinem Briefe je geschehen ist und meinen Augen und Lippen wird er alle nicht geschriebenen Briefe reichlich ersetzen. Du aber wirst mehr Zeit haben und spazieren gehn an diesen schönen Abenden, die es jetzt gibt (gestern war ich mit meiner jüngsten Schwester von 10 bis ½12 in der Nacht spazieren, um 10 sind wir weggegangen und um ½12 zurückgekommen, Du stellst sie Dir vielleicht nicht richtig vor, sie ist schon 20 Jahre alt und geradezu riesig groß und stark, aber kindisch genug) wenn Du nicht gerade zu den Proben eilen mußt. Daß Dir der "Humor" gut gelingt! Ich quäle ja Max und habe ihm schon auf allen möglichen Gassen Deinetwegen fast den Arm ausgerenkt, aber der Dumme weiß von dem ganzen Telephongespräch fast von nichts als von Deinem Lachen zu erzählen. Wie gut mußt Du das Telephonieren verstehn, wenn Du vor dem Telephon so lachen kannst. Mir vergeht das Lachen schon, wenn ich ans Telephon nur denke. Was würde mich sonst hindern, zur Post zu laufen und Dir einen guten Abend zu wünschen? Aber dort eine Stunde auf den Anschluß warten, sich an der Bank vor Unruhe festhalten, endlich gerufen werden und zum Telephon laufen, dass alles zittert, dann mit schwacher Stimme nach Dir fragen, endlich Dich hören und vielleicht nicht imstande zu sein zu antworten, Gott danken, dass die 3 Minuten vorüber sind und mit einem jetzt aber schon unerträglichen Verlangen nachhause zu gehn, wirklich mit Dir zu reden - nein, das lasse ich lieber sein. Übrigens die Möglichkeit bleibt ja als schöne Hoffnung, welches ist Deine Telephonnummer, ich fürchte, Max hat sie vergessen.
So und jetzt werde ich musterhaft schlafen. Liebste, meine Liebste, ich bin ganz unmusikalisch, aber wenn dazu nicht Musik gehört!

Dein Franz


"Humor": Eine Rolle, die Felice zum Jubiläumsfest ihrer Firma einstudiert hatte.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at