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[An Felice Bauer]
[Prag, 11. November 1912; Montag]

11. XI. 12

Liebstes Fräulein!
Ich habe Sie also nicht verloren. Und ich war schon wahrhaftig überzeugt davon. Jener Brief, in dem Sie einen meiner Briefe für fremd erklärten, hatte mich entsetzt. Ich sah darin die unabsichtliche und nur desto entscheidendere Bestätigung eines Fluches, dem ich gerade in der letzten Zeit wenigstens zum größten Teil entwichen zu sein glaubte und dem ich nun wieder und mit dem letzten Schlag verfallen sollte. Ich wußte mich nicht zu fassen, ich wußte Ihnen nichts zu schreiben, die zwei Briefe von Samstag waren gekünstelt von einem Ende zum andern, wahrhaft war nur meine Überzeugung, dass alles zu Ende sei. - Hat es eine Bedeutung, dass gerade jetzt bei diesem Wort meine Mutter weinend, aufgelöst von Weinen (sie geht eben ins Geschäft, sie ist den ganzen Tag im Geschäft, schon seit 30 Jahren jeden Tag) zu mir hereinkommt, mich streichelt, wissen will, was mir fehlt, warum ich bei Tisch nichts rede (aber das tue ich doch schon seit langer Zeit, weil ich mich eben zusammenhalten muß) und noch vieles mehr. Arme Mutter! Ich habe Sie aber sehr vernünftig getröstet, geküßt und schließlich zum Lächeln gebracht, ja sogar noch erreicht, dass Sie mich schon mit halb trockenen Augen wegen meines (übrigens schont seit Jahren geübten) Nichtjausens ziemlich energisch ausgezankt hat. Ich weiß ja auch (sie weiß nicht, dass ich es weiß oder besser, es erst später erfahren habe) woher diese äußere Sorge um mich stammt. Aber davon ein anderes Mal.
Denn wieder ist es so, dass ich vor Fülle dessen, was ich Ihnen sagen will, nicht weiß, wo anfangen. Und trotzdem nehme ich diese letzten 3 Tage als Boten unglücklicher, immer wartender Möglichkeiten und werde niemals in der Unruhe eines Werketags einen größern Brief Ihnen schreiben. Sie müssen zustimmen und nicht böse sein und keine Vorwürfe machen. Denn sehen Sie, ich bin jetzt so in der Laune, mich, ob sie wollen oder nicht, vor Sie hinzuwerfen und Ihnen hinzugeben, dass keine Spur und kein Andenken für irgendjemand andern von mir bleibt, aber ich will nicht wieder, ob unschuldig oder schuldig, eine Bemerkung wie in jenem Briefe lesen. Und nicht nur deshalb werde ich Ihnen von jetzt ab nur kurze Briefe schreiben (dafür sonntags allerdings immer einen mit Wollust ungeheueren Brief) sondern auch deshalb, weil ich mich bis zum letzten Atemzug für meinen Roman aufbrauchen will, der ja auch Ihnen gehört oder besser eine klarere Vorstellung von dem Guten in mir Ihnen geben soll als es die bloß hinweisenden Worte der längsten Briefe des längsten Lebens könnten. Die Geschichte, die ich schreibe, und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben "Der Verschollene" und handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Vorläufig sind 5 Kapitel fertig, das 6te fast. Die einzelnen Kapitel heißen: I Der Heizer II Der Onkel III Ein Landhaus bei New York IV Der Marsch nach Ramses V Im Hotel Occidental VI Der Fall Robinson. - Ich habe diese Titel genannt, als ob man sich etwas dabei vorstellen könnte, das geht natürlich nicht, aber ich will die Titel solange bei Ihnen aufheben, bis es möglich sein wird. Es ist die erste größere Arbeit, ich der ich mich nach 15jähriger, bis auf Augenblicke trostloser Plage seit 1 ½ Monaten geborgen fühle. Die muß also fertig werden, das meinen Sie wohl auch und so will ich unter Ihrem Segen die kleine Zeit, die ich nur zu ungenauen, schrecklich lückenhaften, unvorsichtigen, gefährlichen Briefen an Sie verwenden könnte, zu jener Arbeit hinüberleiten, wo sich alles, wenigstens bis jetzt, von wo es auch gekommen ist, beruhigt und den richtigen Weg genommen hat. Sind Sie damit einverstanden? Und wollen Sie mich also nicht meinem trotz alledem schrecklichen Alleinsein überlassen? Liebstes Fräulein, ich gäbe jetzt etwas für einen Blick in Ihre Augen.

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Alle Fragen beantworte ich Sonntag mit möglichstem Verstand, auch die, warum ich Ihnen gestern nicht geschrieben habe, es ist das eine umfangreiche Geschichte.

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Wenn man nicht wegen Augenschmerzen beim Augenarzt war, muß man das ausdrücklich sagen!
Seit 3 Tagen versage ich mir das Vergnügen aus der Elektrischen zu springen, aus Angst, Sie könnten dann auf dem Wege irgendeiner Gedankenübertragung meine Warnung nicht genug ernst nehmen. Jetzt endlich habe ich Ihr festes Versprechen und darf also wieder springen. Dabei erinnere ich mich an einen Vorfall vom Samstag. Ich ging mit Max und beschrieb mich nicht gerade als einen überglücklichen Menschen. Ich gab dabei auf den Weg nicht recht acht und ein Wagen wich mir nur knapp aus. Noch in meinen Gedanken stampfte ich auf den Boden und rief etwas Unartikuliertes. Ich war im Augenblick tatsächlich darüber wütend, nicht überfahren worden zu sein. Der Kutscher mißverstand das natürlich und schimpfte mit Recht.
Nein, ganz zurückgezogen von meiner Familie lebe ich nicht. Das beweist die beiliegende Darstellung der akustischen Verhältnisse unserer Wohnung, die zur wenig schmerzlichen öffentlichen Züchtigung meiner Familie gerade in einer kleinen Prager Zeitschrift erschienen ist. - Im übrigen ist meine jüngste Schwester (schon über 20 Jahre alt) meine beste Prager Freundin und auch die zwei andern sind teilnehmend und gut. Nur der Vater und ich, wir hassen einander tapfer.
Wie das klingt, von Ihnen mit Du angesprochen zu werden, wenn auch nur in einem Citat!
Noch rasch, ehe Schluß wird, sagen Sie mir ein Mittel, damit ich nicht wie ein Narr vor Freude zittere, wenn ich im Bureau Ihre Briefe bekomme und lese, damit ich dort arbeiten kann und nicht hinausgeworfen werde. Ich könnte sie doch ruhig lesen, nicht? und für paar Stunden vergessen. Das müßte zu erreichen sein. Ihr Franz.


"Der Verschollene": Das Romanfragment wurde 1927 von Max Brod unter dem Titel "Amerika" herausgegeben. In der gesamten Korrespondenz mit Felice Bauer meint Franz Kafka dieses Werk, wenn er von seinem Roman spricht.
Darstellung: "Großer Lärm" war in den Prager "Herder-Blättern" I, 4-5 (Oktober 1912), S. 44 erschienen. Entstanden ist das Stück im November 1911; die erste Niederschrift findet sich in den Tagebüchern (5. oder 6. November 1911).

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at