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[An Felice Bauer]
[Prag, 11. November 1912; Montag]

11. XI. 12

Liebstes Fräulein!
Gott sei Dank! sage auch ich. Wenn Sie wüßten, wie ich den Freitag und den Samstag verbracht habe und ganz besonders diese Nacht von Freitag auf Samstag. Da war wahrhaftig kein Uhrenschlag in keiner Viertelstunde, den ich zu zählen versäumt hätte. Ich hatte am Nachmittag meinen vorletzten Brief unter äußerster und notwendigster Selbstquälerei geschrieben, hatte dann einen Weg gemacht und verhältnismäßig spät mich niedergelegt. Es mag sein - ich weiß es nicht mehr genau - dass ich da vor lauter Traurigkeit eingeschlafen bin. Abend schrieb ich für mich drei oder vier Seiten, die nicht die schlechtesten waren, ich fragte mich vergeblich, wo es in mir noch so ruhige Orte gab, aus denen jenes floß, während ich von Ruhe ausgeschlossen war. Später glaubte ich schon, ein ganzer Mensch zu sein und schrieb jenen Brief auf Fließpapier, der sich mir wieder unter der Hand ins Böse verdrehte und den ich anstarrte, als hätte ich ihn nicht geschrieben, sondern bekommen. Dann legte ich mich nieder und schlief auffallend rasch wenn auch nur ganz oberflächlich ein. Aber - nach einer Viertelstunde war ich schon wieder wach, im halben Traum war es mir vorgekommen, als klopfe
[bricht ab]
(jetzt will ich eine dringende, abscheuliche, uralte, seit einer Woche mir schon drohende Sache erledigen, ohne mir einen Gedanken an Sie zu erlauben, Sie müssen mir dabei beistehen, vielleicht bekomme ich dann zum Lohn einen freien Augenblick und Ruhe für diesen Brief, der mir ganz genau so nahe geht wie mein Herzklopfen und der mir den Kopf ganz und gar erfüllt, als säße ich nicht in einer Anstalt, der ich meine halben Tage und mehr noch verkauft habe und die ihre scheinbar berechtigten Ansprüche ohne Unterbrechung an mich stellt, ein Glück noch, dass sich vor meinen verschlafenen Augen weniger wichtige Arbeiten verziehen, aber jetzt nicht mehr schreiben und arbeiten.)
Die Belohnung ist ausgeblieben, meine Arbeit jagt mich hin und her und das Denken an Sie ebenso, nur in andern Richtungen. Heute habe ich Ihre letzten 3 Briefe fast auf einmal bekommen. Ihre Güte ist unendlich. Vorläufig schicke ich diesen Brief so weg, ich schreibe heute wohl noch einige Male. Ich werde Ihnen genau erklären, warum ich gestern nicht geschrieben habe. Ich werfe diesen Brief so ein wie er ist, weil ich darunter leide, dass kein Brief von mir wenigstens sich zu Ihnen hinbewegt.
Also ein Lebewohl nur für paar Stunden

Ihr Franz K.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at