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[An Felice Bauer]
[Prag, 8. November 1912; Freitag]
[Auf der Rückseite einer Satzprobe von "Kinder auf der Landstraße"]

8.XI.12

Liebes Fräulein Felice!
Ich kann das Briefpapier jetzt um ½ 1 in der Nacht nicht holen, es ist nebenan im Zimmer, dort aber schläft meine Schwester, es ist ein kleines Durcheinander in der Wohnung, denn unser Enkel und Neffe ist wegen der Geburt seiner Schwester bei uns einquartiert. Darum schreibe ich auf diesem Fließpapier, womit ich Ihnen gleichzeitig eine Satzprobe meines kleinen Buches schicke.
Nun hören Sie, liebstes Fräulein, es ist mir, als bekämen meine Worte in der Stille der Nacht mehr Klarheit. Wollen wir nicht meinen heutigen Nachmittagsbrief als Brief vergessen und als Mahnung behalten. Natürlich nur in gutem und bestem Einverständnis. Der heutige Nachmittag nach dem Brief wird mir an Schrecklichkeit unvergeßlich bleiben und die Zeit, während ich den Brief schrieb, war doch schon arg genug. So bin ich also, wenn ich einmal nichts für mich geschrieben habe (wenn natürlich auch nicht das allein mitgewirkt hat). Lebe ich nur für mich und für Gleichgültige oder Angewöhnte oder Anwesende, die durch ihre Gleichgültigkeit oder die Gewöhnung oder ihre lebendige, gegenwärtige Kraft meinen Mangel ersetzen, dann geht es doch selbst für mich unbemerkter vorüber. Wo ich mich aber jemandem nahe bringen und mich ganz einsetzen will, dann wird der Jammer unwiderleglich. Dann bin ich nichts und was will ich mit dem Nichts anfangen. Ich gestehe sogar, dass mir Ihr Brief am Vormittag (am Nachmittag war es schon anders) ganz zurecht kam, gerade solche Worte brauchte ich.
Aber ich bin noch immer nicht erholt, merke ich, ich schreibe nicht klar genug, auch gegen diesen Brief hätte Ihr heutiger Vorwurf recht. Wir wollen es dem Schlaf überlassen und guten Göttern.
Wie gefällt Ihnen die Schriftprobe (das Papier wird natürlich anders sein)? Sie ist zweifellos ein wenig übertrieben schön und würde besser für die Gesetzestafeln Moses passen als für meine kleinen Winkelzüge. Nun wird es aber schon so gedruckt.
Leben Sie wohl! Ich brauche mehr Freundlichkeit als ich verdiene.

Ihr Franz K.


"Kinder auf der Landstraße": Eines der kleinen Prosastücke, die im Dezember 1912 in dem Band "Betrachtung" im Verlag Ernst Rowohlt (Leipzig) erschienen. Vgl. auch Kafkas Brief an den Rowohlt Verlag nach Empfang der Satzprobe (18. Oktober 1912).
gedruckt: "Betrachtung" wurde in ungewöhnlich großer Schrift gedruckt, und zwar auf ausdrücklichen Wunsch Kafkas. Vgl. Briefe an den Verlag vom 7. September und 18. Oktober 1912.

Letzte Änderung: 29.4.2016werner.haas@univie.ac.at