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[An Felice Bauer]
[Prag, 23. Oktober 1912; Mittwoch]
[Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt]

23.X.12

Gnädiges Fräulein!
Und wenn alle meine drei Direktoren um meinen Tisch herumstehen und mir in die Feder schauen sollten, muß ich Ihnen gleich antworten, denn Ihr Brief kommt auf mich herunter, wie aus den Wolken, zu denen man drei Wochen umsonst hinaufgeschaut hat. (Gerade hat sich der Wunsch betreffend meinen unmittelbaren Chef erfüllt.) Wenn ich Ihnen auf Ihre Beschreibung Ihres Lebens in der Zwischenzeit mit Gleichem antworten sollte, so bestand mein Leben jedenfalls zur Hälfte aus dem Warten auf Ihren Brief, wozu ich allerdings auch die drei kleinen Briefe rechnen kann, die ich Ihnen in diesen drei Wochen geschrieben habe (gerade werde ich zwischendurch über Versicherung der Sträflinge ausgefragt, mein lieber Gott!) und von denen zwei jetzt zur Not werden abgeschickt werden können, während der dritte, eigentlich der erste, unmöglich weggehn kann. Und Ihr Brief soll also verloren gegangen sein (von einem Ministerialrekurs Josef Wagner in Katharinaberg weiß ich nichts, habe ich eben erklären müssen) und ich werde auf meine damaligen Fragen keine Antwort bekommen und bin doch gar nicht schuld an dem Verlust.
Ich bin unruhig und kann mich nicht recht fassen, ich bin ganz in der Laune immerfort im Kreis zu klagen, trotzdem heute nicht mehr gestern ist, aber das Angehäufte gießt sich und befreit sich in bessere Tage hinein.
Was ich Ihnen heute schreibe, ist keine Antwort auf Ihren Brief, vielleicht wird die Antwort erst jener Brief sein, den ich morgen schreibe, vielleicht erst der von übermorgen. Meine Schreibweise ist natürlich nicht selbständig närrisch, sondern genau so närrisch wie meine gegenwärtige Lebensweise, die ich Ihnen auch einmal beschreiben kann.
Und immerfort werden Sie beschenkt! Diese Bücher, Bonbons und Blumen liegen auf Ihrem Bureauschreibtisch herum? Auf meinem Tisch ist nur wüste Unordnung und Ihre Blume, für die ich Ihnen die Hand küsse, habe ich schnell in meiner Brieftasche untergebracht, in der sich übrigens trotz Ihres verlorenen und nicht wieder ersetzten Briefes zwei Briefe von Ihnen schon befinden, da ich mir Ihren Brief an Max von ihm ausgebeten habe, was zwar ein wenig lächerlich ist, sonst aber nicht übel genommen werden muß.
Dieses erste Stolpern unserer Korrespondenz war vielleicht ganz gut, ich weiß jetzt, dass ich Ihnen auch über verlorene Briefe hinweg schreiben darf. Aber es dürfen keine Briefe mehr verloren gehn. - Leben Sie wohl und denken Sie an ein kleines Tagebuch.

Ihr Franz K.


[Am oberen Rand der ersten Seite]
Ich bin so nervös wegen möglicher Briefverluste und Sie schreiben auch meine Adresse nicht ganz richtig, so muß man es schreiben: Poric 7 mit zwei Haken auf dem r und c, und der Sicherheit halber wird auch die Nennung der Arbeiterunfallversicherungsanstalt gut sein.
Das Geburtsdatum Frau Sophies schreibe ich morgen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at