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[An Frau Sophie Friedmann]
[Prag, 14. Oktober 1912; Montag]

14.X.12

Liebe gnädige Frau!
Ich habe heute abend zufällig und ohne eigentliche Erlaubnis - Sie werden mir deshalb nicht böse sein - in einem Brief an Ihre Eltern die Bemerkung gelesen, dass das Fräulein Bauer mit mir in lebhafter Korrespondenz steht. Da dies nur bedingungsweise richtig ist, andererseits aber meinem Wunsche sehr entsprechen würde, bitte ich Sie, liebe gnädige Frau, mir zu jener Bemerkung ein paar aufklärende Worte zu schreiben, was ja nicht schwer sein dürfte, da Sie mit dem Fräulein in einer zweifellosen brieflichen Verbindung stehn.
Die Korrespondenz, die Sie "lebhaft" nannten, sieht in Wirklichkeit folgendermaßen aus: Ich habe, nachdem vielleicht zwei Monate seit jenem Abend verflossen waren, an dem ich das Fräulein zum ersten und letzten Mal bei Ihren Eltern gesehen hatte, einen Brief an das Fräulein geschrieben, dessen Inhalt hier nicht weiter erwähnenswert ist, da eine freundliche Antwort erfolgte. Es war durchaus keine abschließende Antwort und konnte ihrem Ton und Inhalt nach ganz gut als Einleitung einer später einmal vielleicht freundschaftlich werdenden Korrespondenz gelten. Der Zeitabstand zwischen meinem Brief und der Antwort betrug allerdings zehn Tage und es scheint mir jetzt, dass ich dieses an sich allerdings nicht zu lange Zögern für meine Antwort als Rat hätte annehmen sollen. Aus verschiedenen, wieder nicht erwähnenswerten Gründen - ich erwähne ja wahrscheinlich schon übergenug, Ihnen, liebe gnädige Frau, nicht erwähnenswert Scheinendes - tat ich dies nicht, sondern schrieb sofort im Anschluß an das vielleicht in mancher Hinsicht nicht genug gründliche Lesen jenes Briefes meinen Brief, der wahrscheinlich für viele Augen den unvermeidlich dummen Charakter eines Ausbruchs haben konnte. Immerhin kann ich beschwören, dass, die Berechtigung aller Einwände gegen jenen Brief zugegeben, der Einwand der Unehrlichkeit ungerecht wäre, und das müßte doch unter Menschen, die kein ungünstiges Vorurteil über einander haben, das Entscheidende sein. Seit diesem Brief nun sind heute sechzehn Tage vergangen, ohne dass ich eine Antwort bekommen hätte, und ich wüßte wirklich nicht, was für eine Ursache jetzt eine nachträgliche Antwort noch bewirken könnte, zumal mein damaliger Brief einer jener Briefe war, die nur deshalb geschlossen werden, damit nur bald Gelegenheit für die Antwort geschaffen wird. Im Laufe dieser sechzehn Tage habe ich, um meine Aufrichtigkeit Ihnen gegenüber voll zu machen, noch zwei allerdings nicht abgeschickte Briefe an das Fräulein geschrieben, und sie sind das einzige, was mir, wenn ich Humor hätte, erlauben würde, von einer lebhaften Korrespondenz zu sprechen. Ich hätte ja zuerst glauben können, dass zufällige Umstände die Antwort auf jenen Brief verhindert oder unmöglich gemacht haben könnten, ich habe aber alle durchgedacht und glaube an keine zufälligen Umstände mehr.
Ich hätte es gewiß, liebe gnädige Frau, weder Ihnen gegenüber noch mir gegenüber gewagt, diese kleine Beichte vorzutragen, wenn nicht eben jene Bemerkung in Ihrem Briefe mich allzu sehr gestochen hätte und wenn ich nicht außerdem wüßte, dass dieser Brief, dessen Inhalt nicht gerade dazu gemacht ist, sich sehen zu lassen, in gute und geschickte Hände kommt.
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihren lieben Mann

Ihr ergebener     Franz Kafka
Prag, Poric 7


Sophie Friedmann: Die Schwester Max Brods.
Nicht abgeschickte Briefe: Den ersten hat Kafka später seinem Brief vom 20. zum 21. Dezember 1912 beigelegt, den zweiten seinem Brief vom 18. Mai 1913