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[An Felice Bauer]
[Prag, 13. Oktober 1912; Freitag]

13.X.12

Gnädiges Fräulein!
Vor 15 Tagen um 10 Uhr vormittag habe ich Ihren ersten Brief bekommen und einige Minuten später saß ich schon und schrieb an Sie vier Seiten eines ungeheueren Formats. Ich beklage es nicht, denn ich hätte jene Zeit nicht mit größerer Freude verbringen können, und zu beklagen blieb nur, dass, als ich damals schloß, nur der kleinste Anfang dessen geschrieben war, was ich hatte schreiben wollen, so dass der damals unterdrückte Teil des Briefes mich Tage lang erfüllte und unruhig machte, bis diese Unruhe abgelöst wurde durch die Erwartung Ihrer Antwort und das Immerschwächerwerden dieser Erwartung.
Warum haben Sie mir denn nicht geschrieben? - Es ist möglich und bei der Art jenes Schreibens wahrscheinlich, dass in meinem Brief irgendeine Dummheit stand, die Sie beirren konnte, aber es ist nicht möglich, dass Ihnen die gute Absicht auf dem Grundes jedes meiner Worte entgangen wäre. - Sollte ein Brief verloren gegangen sein? Aber meiner war mit zu großem Eifer weggeschickt, als dass er sich hätte verwerfen lassen, und Ihrer wurde zu sehr erwartet. Und gehn denn Briefe überhaupt verloren, außer in der unsichern Erwartung, die keine andere Erklärung mehr findet? - Sollte mein Brief infolge der mißbilligten Palästinafahrt Ihnen nicht übergeben worden sein? Aber kann das innerhalb einer Familie überhaupt geschehn und gar Ihnen gegenüber? Und meiner Rechnung nach mußte der Brief sogar Sonntag vormittag eintreffen. - Bliebe also nur die traurige Möglichkeit, dass Sie krank sind. Aber daran glaube ich nicht, Sie sind gewiß gesund und fröhlich. - Dann versagt aber auch mein Verstand und ich schreibe diesen Brief nicht so sehr in Hoffnung auf Antwort als in Erfüllung einer Pflicht gegen mich selbst.
Wäre ich doch der Briefträger der Immanuelkirchstraße, der diesen Brief in Ihre Wohnung brächte, durch kein erstauntes Familienmitglied sich abhalten ließe, geradewegs durch alle Zimmer zu Ihnen zu gehn und den Brief in Ihre Hand zu legen; oder noch besser wäre ich selbst vor Ihrer Wohnungstür und drückte endlos lange auf die Türglocke zu meinem Genuß, zu einem alle Spannung auflösenden Genuß!

Ihr Franz K.
Prag, Poric 7


Formats: Kafka meint seinen Brief vom 28. September, der aus vier Seiten (33,3 x 20,7 cm) besteht.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at