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[Prag, in der Nacht vom 7. bis 8. Oktober 1912]


Mein liebster Max!

Nachdem ich in der Nacht von Sonntag auf Montag gut geschrieben hatte - ich hätte die Nacht durchschreiben können und den Tag und die Nacht und den Tag und schließlich wegfliegen - und heute sicher auch gut hätte schreiben können - eine Seite, eigentlich nur ein Ausatmen der gestrigen zehn ist sogar fertig - muß ich aus folgendem Grunde aufhören: Mein Schwager - der Fabrikant - ist, was ich in meiner glücklichen Zerstreutheit kaum beachtet hatte, heute früh zu einer Geschäftsreise ausgefahren, die zehn bis 14 Tage dauern wird. In dieser Zeit ist die Fabrik tatsächlich dem Werkmeister allein überlassen und kein Geldgeber, um wie viel weniger ein so nervöser wie mein Vater, wird an der vollkommen betrügerischen Wirtschaft zweifeln, die jetzt in der Fabrik vor sich geht. Im übrigen glaube ich dasselbe, zwar nicht so sehr aus Angst um das Geld, als aus Uninformiertheit und Gewissensunruhe. Schließlich aber dürfte auch ein Unbeteiligter, soweit ich mir ihn vorstellen kann, an der Berechtigung der Angst meines Vaters nicht besonders zweifeln, wenn ich auch nicht vergessen darf, dass ich im letzten Grunde es gar nicht einsehe, warum nicht ein reichsdeutscher Werkmeister auch in Abwesenheit meines Schwagers, dem er in allem Technischen und Organisatorischen himmelweit überlegen ist, alles in der gleichen Ordnung führen könnte, wie sonst, denn schließlich sind wir Menschen und nicht Diebe.

    Nun ist außer dem Werkmeister noch der jüngere Bruder meines Schwagers da, zwar ein Narr in allen Sachen außer dem Geschäftlichen und auch noch weit ins Geschäftliche hinein, aber doch tüchtig, fleißig, aufmerksam, ein Springer möchte ich sagen. Der muß aber natürlich viel im Bureau sein und außerdem das Agenturgeschäft führen, zu diesem Zweck den halben Tag in der Stadt herumlaufen und für die Fabrik bleibt ihm also wenig Zeit.

    Wie ich einmal in letzter Zeit Dir gegenüber behauptet habe, dass mich von außen her nichts im Schreiben stören könne (was natürlich keine Prahlerei, sondern Selbsttröstung war), dachte ich nur daran, wie die Mutter mir fast jeden Abend vorwimmert, ich solle doch einmal hie und da zur Beruhigung des Vaters in die Fabrik schauen und wie mir das auch von seiner Seite der Vater mit Blicken und sonst auf Umwegen viel ärger gesagt hat. Solche Bitten und Vorwürfe giengen zwar zum größten Teil nicht auf Unsinn heraus, denn eine Überwachung des Schwagers würde ihm und der Fabrik sicher sehr gut tun; nur kann ich aber - und darin lag der nicht aus der Welt zu schaffende Unsinn jenes Geredes - eine derartige Überwachung auch in meinen hellsten Zuständen nicht leisten.

    Darum handelt es sich aber für die nächsten 14 Tage nicht, für die ja nichts anderes nötig ist, als zwei beliebige Augen, und seien es auch nur die meinen, in der Fabrik herumgehn zu lassen. Dagegen, dass diese Forderung gerade an mich gestellt wird, ist nicht das geringste zu sagen, denn ich trage nach der Meinung aller die Hauptschuld an der Gründung der Fabrik - ich muß diese Schuld halb im Traum übernommen haben, scheint mir allerdings - und außerdem ist auch niemand da, der sonst in die Fabrik gehen könnte, denn die Eltern, an die übrigens auch sonst nicht zu denken wäre, haben jetzt gerade die stärkste Geschäftssaison (das Geschäft scheint auch in dem neuen Lokal besser zu gehn) und heute war z. B. die Mutter gar nicht beim Mittagessen zuhause.

    Als heute abend die Mutter also wieder mit der alten Klage anfieng und abgesehen von dem Hinweis auf die Verbitterung und das Krankwerden des Vaters durch meine Schuld, auch diese neue Begründung von der Abreise des Schwagers und der vollständigen Verlassenheit der Fabrik vorbrachte und auch meine jüngste Schwester, die doch sonst zu mir hält, mit richtigem, von mir in der letzten Zeit auf sie übergegangenem Gefühl und gleichzeitig mit ungeheuerem Unverstand mich vor der Mutter verließ, und mir die Bitterkeit - ich weiß nicht, ob es nur Galle war - durch den ganzen Körper rann, sah ich vollkommen klar ein, dass es für mich jetzt nur zwei Möglichkeiten gab, entweder nach dem allgemeinen Schlafengehen aus dem Fenster zu springen oder in den nächsten 14 Tagen täglich in die Fabrik und in das Bureau des Schwagers zu gehn. Das erstere gab mir die Möglichkeit, alle Verantwortung sowohl für das gestörte Schreiben als auch für die verlassene Fabrik abzuwerfen, das zweite unterbrach mein Schreiben unbedingt - ich kann mir nicht den Schlaf von 14 Nächten einfach aus den Augen wischen - und ließ mir, wenn ich genug Kraft des Willens und der Hoffnung hatte, die Aussicht, in 14 Tagen möglicherweise dort anzusetzen, wo ich heute aufgehört habe.

    Ich bin also nicht hinuntergesprungen und auch die Lockungen, diesen Brief zu einem Abschiedsbrief zu machen (meine Eingebungen für ihn gehe in anderer Richtung), sind nicht sehr stark. Ich bin lange am Fenster gestanden und habe mich gegen die Scheibe gedruckt und es hätte mir öfters gepaßt, den Mauteinnehmer auf der Brücke durch meinen Sturz aufzuschrecken. Aber ich habe mich doch die ganze Zeit über zu fest gefühlt, als dass mir der Entschluß, mich auf dem Pflaster zu zerschlagen, in die richtige entscheidende Tiefe hätte dringen können. Es schien mir auch, dass das Amlebenbleiben mein Schreiben - selbst wenn man nur, nur vom Unterbrechen spricht - weniger unterbricht als der Tod, und dass ich zwischen dem Anfang des Romans und seiner Fortsetzung in 14 Tagen mich irgendwie gerade in der Fabrik, gerade gegenüber meinen zufriedengestellten Eltern im Innersten meines Romans bewegen und darin leben werde.

    Ich lege Dir, mein liebster Max, das Ganze nicht vielleicht zur Beurteilung vor, denn darüber kannst Du ja kein Urteil haben, aber da ich fest entschlossen war, ohne Abschiedsbrief hinunterzuspringen - vor dem Ende darf man doch müde sein - so wollte ich, da ich wieder als Bewohner in mein Zimmer zurücktreten soll, an Dich dafür einen langen Wiedersehensbrief schreiben und da ist er.

    Und jetzt noch einen Kuß und Gute Nacht, damit ich morgen ein Fabrikschef bin, wie es verlangt wird.

Dein Franz        
 


Dienstag ½1 Uhr

Oktober 1912

Und doch, das darf ich jetzt am Morgen auch nicht verschweigen, ich hasse sie alle der Reihe nach und denke, ich werde in diesen 14 Tagen kaum die Grußworte für sie fertig bringen. Aber Haß - und das richtet sich wieder gegen mich - gehört doch mehr außerhalb des Fensters, als ruhig schlafend im Bett. Ich bin weit weniger sicher als in der Nacht.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Fabrik: Die Asbestfabrik seines Schwagers Karl Hermann (siehe 1910 Anm. 35).


gut geschrieben: An seinem Roman "Der Verschollene".


eine Seite . . . fertig: Es handelt sich um die Passage "Es war ein langsames Vorwärtskommen ... ein eiskaltes marmornes Geländer trat an ihre Stelle" (KKAV Textband 97f.) Siehe hierzu - sowie zu diesem Brief überhaupt -KKAV Apparatband 54-59.


meine jüngste Schwester: Ottla (Ottilie) Kafka, (1892-1943) später verheiratete Davidová.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at