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[Stempel: Harzburg-Wernigerrode Bahnpost, 18. 7. 12]

[An:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkonceptspraktikant Prag k.k. Postdirection

Abs.: Dr Franz Kafka Jungborn im Harz P. Stapelburg


17. VII 12
 

Mein lieber Max! Du bist nicht gerade lustig, wie ich aus Deinem Brief zu lesen glaube. Aber was fehlt Dir? Du arbeitest an der Arche Noah und bringst sie vorwärts und machst sie in meiner Erwartung so schön, dass ich Dich bitte, mir sie in einem Abzug zu schicken; außerdem sitzt Du bei Rowohlt fest und gut. Daß Lissauer Dich beschimpft, bewegt Dir doch wohl kein Härchen. Beneidest Du mich vielleicht?

    Mein Hauptleiden besteht darin, dass ich zu viel esse. Ich stopfe mich wie eine Wurst, wälze mich im Gras und schwelle in der Sonne an. Ich habe die dumme Idee, mich dick machen zu wollen und von da aus mich allgemein zu kurieren, als ob das zweite oder auch nur das erste möglich wäre. Die gute Wirkung des Sanatoriums zeigt sich darin, dass ich mir bei dem allen den Magen nicht eigentlich verderbe, er wird bloß stumpfsinnig. Es ist damit nicht ohne Zusammenhang, dass meine Schreiberei langsamer weiter geht als in Prag. Dagegen, oder besser: überdies sind mir gestern und heute über das Minderwertige meines Schreibens einige Erkenntnisse aufgegangen, die, wie ich fürchte, nicht vergehen werden. Es macht aber nichts. Zu schreiben aufhören kann ich nicht, es ist also eine Lust, die ohne Schaden bis auf den Kern geprüft werden kann.

    Das Jahrbuch hast Du also in der Hand? "Arcadia" würde ich es nicht nennen, so wurden bisher nur Weinstuben genannt. Aber es ist leicht möglich, dass der Name, wenn er einmal feststeht, bezwingend sein wird.

    Warum sitzst Du Sonntag abend allein im Louvre? Warum bist Du nicht in Schelesen bei Baum? Das würde Dir besser passen.

    Weltsch werde ich also schreiben, aber sag Du ihm auch noch ein gutes Wort für mich. Es ist wahrscheinlich eine Krankheit ähnlich der, welche seine Schwester letzthin hatte?

    Lebwohl, mein lieber Max, und sei nicht traurig! Wahr ist es, schon ist das Leben, das ich jetzt führe, ist zum großen Teil geeignet, um die Traurigkeit herumzuführen, aber ich will doch tausendmal lieber mitten in sie hineinfahren, wie ich es fast jeden Abend in dem Schreibzimmer tue, wo ich 1½ Stunden meist allein, und ohne zu schreiben, versitze. Es ist ein Gedanke des Jungborn, der mir wichtiger ist als seine eigentlich grundlegenden, dass nämlich im Schreibzimmer nicht gesprochen werden darf: Allerdings besteht wieder der Befehl oder der Aberglaube, dass um 9 die Fenster geschlossen werden müssen. Man kann dort noch fast bis 10 bleiben, aber um 9 kommt ein Mädchen - manchmal scheint es mir, als wartete ich von 8 Uhr an auf diese Weiblichkeit - und schließt die Fenster. Ein Mädchen hat kurze Arme und ich muß ihr helfen. Besonders still ist es hier, wenn der Doktor im Vortragsaal (3 mal in der Woche) vorträgt, vor die Wahl der zwei Genüsse gestellt, wähle ich die Stille, trotzdem ich sehr gerne zu den Vorträgen gienge. Letzthin erklärte er, dass die Bauchatmung zum Wachsen und Reizen der Geschlechtsorgane beitrage, weshalb die auf Bauchatmung hauptsächlich beschränkten Opernsängerinnen so unanständig sind. Es ist aber auch möglich, dass gerade die zur direkten Brustatmung gezwungen sind. Nimm es nach Belieben! Grüße auch alle

Dein Franz        


Drei Beilagen



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Arche Noah: Eine "dramatische Szene", "Die Arche Noachs", die Brod in sein Buch Die Höbe des Gefühls aufnahm (siehe Anm. 12 oben).


Lissauer: Der (auch sonst kampflustige) Schriftsteller Ernst Lissauer (1882-1937).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at