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[Tagebuch, 31. Dezember 1911; Sonntag]

31. XII 11

Meinung tut. Gerade weil seine Fähigkeiten so begrenzt sind, fürchtet er sich weniger zu tun als alles. Selbst wenn seine Fähigkeit nicht geradezu unteilbar klein sein sollte, will er doch nicht verraten, dass unter Umständen und bei Miteintritt seines Willens auch weniger Kunst ihm zu Verfügung stehen kann, als seine Ganze. Die freie, ohne Rücksicht auf die Aufpasser im Parterre vorsichgehende, nach den rein gefühlten Bedürfnissen der Darstellung gelenkte,

Am Morgen fühlte ich mich zum Schreiben so frisch, jetzt aber hindert mich die Vorstellung, dass ich Max am Nachmittag vorlesen soll, vollständig. Es zeigt dies auch, wie unfähig ich zur Freundschaft bin, vorausgesetzt, dass Freundschaft in diesem Sinne überhaupt möglich ist. Denn da eine Freundschaft ohne die Unterbrechungen des täglichen Lebens nicht denkbar ist, so wird, bleibe auch ihr Kern unverletzt, eine Menge ihrer Äußerungen immer wieder weggeweht. Aus dem unverletzten Kern bilden sie sich allerdings von neuem, aber da jede solche Bildung Zeit braucht und auch nicht jede erwartete gelingt, kann selbst abgesehen von dem Wechsel der persönlichen Stimmungen niemals dort angeknüpft werden wo das letztemal abgebrochen wurde. Daraus muß bei tief begründeten Freundschaften vor jeder neuen Begegnung eine Unruhe entstehen, die nicht so groß sein muß, dass sie an sich gefühlt wird, die aber das Gespräch und das Benehmen bis zu einem Grade stören kann, dass man bewußt erstaunt, besonders da man den Grund nicht erkennt oder nicht glauben kann. Wie soll ich da M. vorlesen oder gar beim Niederschreiben des Folgenden denken, dass ich es ihm vorlesen werde.

Außerdem stört mich, dass ich das Tagebuch heute früh daraufhin durchgeblättert habe, was ich M. vorlesen könnte. Nun habe ich bei dieser Überprüfung weder gefunden, dass das bisher Geschriebene besonders wertvoll sei, noch dass es geradezu weggeworfen werden müsse. Mein Urteil liegt zwischen beiden und näher der ersten Meinung, doch ist es nicht derartig, dass ich mich nach dem Wert des Geschriebenen trotz meiner Schwäche für erschöpft ansehn müßte. Trotzdem hat mich der Anblick der Menge des von mir Geschriebenen von der Quelle des eigenen Schreibens deshalb für die nächsten Stunden fast unwiederbringlich abgelenkt, weil sich die Aufmerksamkeit im gleichen Flußlauf gewissermaßen flußabwärts verloren hat.

Während ich manchmal glaube, dass ich während der ganzen Gymnasialzeit und auch früher besonders scharf denken konnte und dies nur infolge der späteren Schwächung meines Gedächtnisses heute nicht mehr gerecht beurteilen kann, so sehe ich ein anderes mal wieder ein, dass mir mein schlechtes Gedächtnis nur schmeicheln will und dass ich wenigstens in an sich unbedeutenden aber folgeschweren Dingen mich sehr denkfaul benommen habe. So habe ich allerdings in der Erinnerung, dass ich in den Gymnasialzeiten öfters - wenn auch nicht sehr ausführlich, ich ermüdete wahrscheinlich schon damals leicht - mit Bergmann in einer entweder innerlich vorgefundenen oder ihm nachgeahmten talmudischen Weise über Gott und seine Möglichkeit disputierte. Ich knüpfte damals gern an das in einer christlichen Zeitschrift - ich glaube "die christliche Welt" - gefundene Thema an, in welchem eine Uhr und die Welt und der Uhrmacher und Gott einander gegenübergestellt waren und die Existenz des Uhrmachers jene Gottes beweisen sollte. Das konnte ich meiner Meinung nach sehr gut dem Bergmann gegenüber widerlegen wenn auch diese Widerlegung in mir nicht fest begründet war und ich mir sie für den Gebrauch erst wie ein Geduldspiel zusammensetzen mußte. Eine solche Widerlegung fand einmal statt, als wir den Rathausturm umgiengen. Daran erinnere ich mich deshalb genau, weil wir einander einmal vor Jahren daran erinnert haben. - Während ich mich aber darin auszuzeichnen glaubte - anderes als das Verlangen mich auszuzeichnen und die Freude am Wirken und an der Wirkung brachte mich nicht dazu - duldete ich es nur infolge nicht genügend starken Nachdenkens, dass ich immer in schlechten Kleidern herumgieng, die mir meine Eltern abwechselnd von einzelnen Kundschaften, am längsten von einem Schneider in Nusle machen ließen. Ich merkte natürlich, was sehr leicht war, dass ich besonders schlecht angezogen gieng und hatte auch ein Auge dafür wenn andere gut angezogen waren, nur brachte es mein Denken durch Jahre hin nicht fertig die Ursache meines jämmerlichen Aussehns in meinen Kleidern zu finden. Da ich schon damals mehr in Ahnungen als in Wirklichkeit auf dem Wege war, mich geringzuschätzen, war ich überzeugt, dass die Kleider nur an mir dieses zuerst bretterartig steife dann faltighängende Aussehen annehmen. Neue Kleider wollte ich gar nicht, denn wenn ich schon häßlich aussehn sollte, wollte ich es wenigstens bequem haben und außerdem vermeiden, der Welt, die sich an die alten Kleider gewöhnt hatte, die Häßlichkeit der neuen vorzuführen. Diese immer lang dauernden Weigerungen meiner Mutter gegenüber, die mir öfters neue Kleider dieser Art machen lassen wollte, da sie mit den Augen des erwachsenen Menschen immerhin Unterschiede zwischen diesen neuen und alten Kleidern finden konnte, wirkten insoferne auf mich zurück, als ich mir unter Bestätigung meiner Eltern einbilden mußte, dass mir an meinem Aussehen nichts lag.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at