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[Tagebuch, 23. Dezember 1911; Samstag]

23. XII 11 Sa. Kommt beim Anblick meiner ganzen Lebensweise, die in eine allen Verwandten und Bekannten fremde falsche Richtung führt, die Befürchtung auf und wird sie von meinem Vater ausgesprochen, dass aus mir ein zweiter Onkel Rudolf, also der Narr der neuen nachwachsenden Familie, der für die Bedürfnisse einer andern Zeit etwas abgeänderte Narr werden wird, dann werde ich von jetzt ab fühlen können, wie in der Mutter, deren Widerspruch gegen solche Meinung im Laufe der Jahre immer kleiner wird, alles sich sammelt und stärkt, was für mich und was gegen Onkel Rudolf spricht und wie ein Keil zwischen die Vorstellungen von uns beiden fährt.

Vorgestern in der Fabrik. Abends bei Max, wo der Maler Novak gerade die Litographien von Max ausbreitete. Ich wußte mich ihnen gegenüber nicht zu fassen, nicht ja nicht nein zu sagen. Max brachte einige Ansichten vor, die er sich schon gebildet hatte, worauf sich mein Denken darum herumkugelte ohne Ergebnis. Endlich gewöhnte ich mich an die einzelnen Blätter, legte wenigstens die Überraschung der ungeübten Augen ab, fand ein Kinn rund, ein Gesicht gepreßt, einen Oberkörper panzerhaft, er sah aber eher so aus, als trage er ein riesiges Frackhemd unter dem Straßenanzug. Der Maler brachte dagegen einiges nicht auf den ersten und nicht auf den zweiten Anlauf Verständliches vor und schwächte die Bedeutung dessen nur dadurch, dass er es gerade uns gegenüber sagte, die, wenn seines innerlich erwiesen war, den billigsten Unsinn gesprochen hatten. Er behauptete, dass es die gefühlte und selbst bewußte Aufgabe des Künstlers wäre, den Porträtierten in seine eigene Kunstform aufzunehmen. Um dies zu erreichen hatte er zuerst eine Porträtskizze in Farben angefertigt, die auch vor uns lag, in dunklen Farben eine tatsächlich zu scharfe trockene Ähnlichkeit aufwies (diese zu große Schärfe kann ich erst jetzt eingestehn) und von Max für das beste Portrait erklärt wurde, da es außer seiner Ähnlichkeit um Augen und Mund edle, gefaßte Züge trug, die durch die dunklen Farben im richtigen Maße gestärkt wurden. Wurde man danach gefragt, konnte man es nicht leugnen. Nach dieser Skizze arbeitete nun der Maler zuhause an seinen Litographien, indem er, Litographie um Litographie verändernd, darnach trachtete, immermehr von der Naturerscheinung sich zu entfernen, dabei aber seine eigene Kunstform nicht nur nicht zu verletzen, sondern Strich für Strich ihr näherzurücken. So verlor z. B. die Ohrmuschel ihre menschlichen Windungen und den detaillierten Rand und wurde ein vertiefter Halbkreiswirbel um eine kleine dunkle Öffnung. Maxens knochig schon vom Ohr an sich bildendes Kinn verlor seine einfache Begrenzung, so unentbehrlich sie scheint und so wenig für den Beschauer aus der Entfernung der alten Wahrheit eine neue wurde. Das Haar löste sich in sichern, verständlichen Umrissen auf und blieb menschliches Haar, wie es auch der Maler leugnete. Während der Maler das Verständnis dieser Umwandlungen von uns verlangt hatte, deutete er dann nur noch flüchtig aber mit Stolz an, dass alles auf diesen Blättern Bedeutung hatte und dass selbst das Zufällige durch seine alles Nachträgliche beeinflussende Wirkung ein Notwendiges war. So gieng neben einem Kopf ein schmaler, blasser Kaffeefleck fast das ganze Bild hinab, er war eingefügt, berechnet und nicht mehr wegzunehmen ohne Schaden für alle Proportionen. Auf einem andern Blatt war links in der Ecke ein großer zerstreut punktierter, kaum auffallender blauer Fleck; dieser Fleck nun war sogar mit Absicht angebracht, der kleinen, von ihm über das Bild hingehenden Beleuchtung wegen, in welcher dann der Maler weitergearbeitet hatte. Sein nächstes Ziel war nun vor allem den Mund, an dem schon einiges aber nicht genug geschehen war, und dann die Nase in die Umwandlung mit einzubeziehn, wozu er auf die Klage Maxens, dass sich die Litographie auf diese Weise immer mehr von der schönen Farbenskizze entferne, bemerkte, dass es gar nicht ausgeschlossen sei, dass sie sich ihr wieder annähern werde. Nicht zu übersehn war jedenfalls die Sicherheit, mit welcher der Maler in jedem Augenblick des Gesprächs auf das Unvorhergesehene seiner Eingebung vertraute und dass nur dieses Vertrauen seine künstlerische Arbeit mit dem besten Recht zu einer fast Wissenschaftlichen machte. - Zwei Litographien "Apfelverkäuferin" und "Spaziergang" gekauft

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Ein Vorteil des Tagebuchführens besteht darin, dass man sich mit beruhigender Klarheit der Wandlungen bewußt wird, denen man unaufhörlich unterliegt, die man auch im allgemeinen natürlich glaubt, ahnt und zugesteht, die man aber unbewußt immer dann leugnet, wenn es darauf ankommt, sich aus einem solchen Zugeständnis Hoffnung oder Ruhe zu holen. Im Tagebuch findet man Beweise dafür, dass man selbst in Zuständen, die heute unerträglich scheinen, gelebt, herumgeschaut und Beobachtungen aufgeschrieben hat, dass also diese Rechte sich bewegt hat wie heute, wo wir zwar durch die Möglichkeit des Überblickes über den damaligen Zustand klüger sind, darum aber desto mehr die Unerschrockenheit unseres damaligen in lauter Unwissenheit sich dennoch erhaltenden Strebens anerkennen müssen.

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Durch Werfels Gedichte hatte ich den ganzen gestrigen Vormittag den Kopf wie von Dampf erfüllt. Einen Augenblick fürchtete ich die Begeisterung werde mich ohne Aufenthalt bis in den Unsinn mitfortreißen.

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Quälendes Gespräch vorgestern abend mit Weltsch. Meine Blicke liefen aufgescheucht eine Stunde lang auf seinem Gesicht und Hals hin und her. Einmal wußte ich mitten in einer durch Aufregung Schwäche und Gedankenlosigkeit hervorgerufenen Gesichtsverzerrung nicht bestimmt, ob ich ohne dauernde Verletzung unseres Verhältnisses aus dem Zimmer herauskommen werde. Draußen in dem regnerischen für schweigendes Gehn bestimmten Wetter atmete ich auf und wartete dann zufrieden eine Stundelang vor dem "Orient" auf M. Solches Warten mit langsamen Blicken auf die Uhr und gleichgültigem Hin- und Hergehn ist mir fast ebenso angenehm, wie das Liegen auf dem Kanapee mit gestreckten Beinen und den Händen in den Hosentaschen. (Im Halbschlaf glaubt man dann die Hände gar nicht mehr in den Hosentaschen zu haben, sondern sie scheinen als Fäuste oben auf den Schenkeln zu liegen)


Onkel Rudolf: Rudolf Löwy (1861 - 1921), ein Halbbruder von Julie Kafka. Er war Buchhalter einer Prager Brauerei, trat aus Überzeugung zum Katholizismus über und galt als Sonderling der Familie.
Litographien: Unter dem Titel "Neue Farbenlithographien von Willy Nowak" schreibt das "Prager Tagblatt" einen Tag später, am 24 Dezember 1911: "Willy Nowak, der große Künstler unserer Heimat, hat eben jetzt wieder vier farbige Lithographien geschaffen, die die Größe dieses Meisters auf neue bezeugen. Es sind vier Stücke von seltener Vollendung und altmeisterlicher Harmonie. Der "Spaziergang" namentlich wird alle Kenner entzücken. Das "Mädchen mit Äpfeln" zeigt seine delikate Farbengebung, das Porträt Max Brods seine fabelhafte Noblesse, die "Badenden Mädchen" eine Grazie der Formen, die an die großen Franzosen gemahnt. Alle vier Blätter sind in unserer Bilderausstellung zu sehen und in der Kunsthandlung Hübscher (Elisabethstraße) käuflich zu erwerben." (MA Nr. 355, S. 12).
Werfels Gedichte: Franz Werfels bereits am 19. Oktober im "Börsenblatt für den deutschen Buchhandel" (Nr. 244, S. 12414) angekündigte Lyriksammlung "Der Weltfreund" war in der ersten Dezemberhälfte erschienen (Berlin 1911).
Weltsch: Felix Weltsch (1884 - 1964), den mit Max Brod eine "Kinder- und Schulfreundschaft" verband, lernte Kafka vermutlich bereits 1903 kennen, entweder im Brentanisten-Kreis oder durch Vermittlung Brods: "Das Triumvirat Kafka, Weltsch, Brod wurde geschlossen." (Max Brod, "Der Prager Kreis"), S. 35 u. 36.)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at