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[Tagebuch, 8. Dezember 1911; Freitag]
8 Dec. (1911) Freitag, lange nicht geschrieben, nur war es diesmal doch halbwegs aus Zufriedenheit, da ich das erste Kapitel von R. u. S. selbst beendet habe und besonders die anfängliche Beschreibung des Schlafes im Koupe als gelungen ansehe. Noch mehr, ich glaube, dass sich an mir etwas vollzieht, dass jener Schillerschen Umbildung des Affekts in Charakter sehr nahesteht. Über alles Wehren meines Innern muß ich das Aufschreiben
Spaziergang mit Löwy zum Statthalterschloß, das ich die Zionsburg nannte. Das Maßwerk der Eingangstore und die Himmelsfarbe giengen sehr klar zusammen. - Ein anderer Spaziergang zur Hetzinsel. Erzählung von Frau Tschissik wie man sie aus Mitleid in Berlin in die Gesellschaft aufnahm, eine zuerst wertlose Duettistin in altfränkischem Kleid und Hut. Vorlesen eines Briefes aus Warschau, in dem ein junger Warschauer Jud über den Niedergang des jüdischen Teaters klagt und schreibt, dass er lieber in die "Nowosti" das polnische Operettenteater gehe, als in das jüdische, denn diese elende Ausstattung, die Unanständigkeiten, die "verschimmelten" Couplets u. s. w. seien unerträglich. Man denke nur an den Haupteffekt einer jüdischen Operette, der darin besteht, dass die Primadonna mit einem Zug kleiner Kinder hinter sich durch das Publikum auf die Bühne marschiert. Alle tragen kleine Thorarollen und singen: toire is die beste schoire - die Thora ist die beste Ware.
Schöner einsamer Spaziergang nach jenen gelungenen Stellen in R. u. S. über den Hradschin und das Belvedere. In
der Nerudagasse eine Tafel: Anna Krizova Schneiderin, ausgelernt in Frankreich durch die Herzogin-Witwe Ahrenberg geb. Princess Ahrenberg. - In der Mitte des ersten Schloßhofes stand ich und sah einer Alarmierung der Schloßwache zu.
Max haben die letzten von mir geschriebenen Partien nicht gefallen, jedenfalls deshalb, weil er sie für das Ganze als nicht passend ansieht, möglicherweise aber auch an und für sich für schlecht hält. Dieses ist sehr wahrscheinlich, weil er mich vor dem Schreiben so langer Stellen warnte und den Effekt solchen Schreibens als etwas Gallertartiges ansieht.
Um mit jungen Mädchen reden zu können, brauche ich das Nahesein älterer Personen. Die von ihnen ausgehende leichte Störung belebt mir das Gespräch, die Forderungen an mich scheinen mir gleich herabgestimmt, was ich nicht überprüft aus mir heraussage, kann immer noch, wenn es für das Mädchen nicht gilt, für die ältere Person angebracht sein, aus der ich auch wenn es notwendig wird, Hilfe in Menge herausholen kann.
Frl. Haas. Sie erinnert mich an Frau Blei, nur ihre Nase sieht in ihrer Länge, leichten Doppelbiegung und verhältnismäßigen Schmalheit wie die verdorbene Nase der Frau Blei aus. Sonst aber hat auch sie im Gesicht eine äußerlich kaum begründete Schwärze, die nur von einem kräftigen Charakter in die Haut getrieben sein kann. Breiter Rücken, weit vorgeschrittene Anlage zu dem schwellenden Frauenrücken; schwerer Körper, der dann in der gut geschnittenen Jacke dünn wird und für den noch diese schmale Jacke lose ist. Nach Verlegenheiten im Gespräch bedeutet ein freies Heben des Kopfes, dass ein Ausweg gefunden ist. Ich lag ja nicht auf dem Boden in diesem Gespräch, hatte mich auch innerlich nicht aufgegeben, aber hätte ich mich nur von außen gesehn, hätte ich mein Benehmen nicht anders erklären können. Zu einer freien Aussprache mit neuen Bekanntschaften konnte ich früher deshalb nicht kommen, weil mich unbewußt das Vorhandensein sexueller Wünsche hinderte, jetzt hindert mich ihr bewußter Mangel.
Begegnung des Ehepaares Tschissik auf dem Graben. Sie trug ihr Dirnenkleid aus dem "Wilden Menschen". Wenn ich ihre Erscheinung wie ich sie damals auf dem Graben hatte in die Details zerlege, wird sie unwahrscheinlich. (Ich sah sie nur flüchtig, denn ich erschrak bei ihrem Anblick, grüßte nicht, wurde auch nicht gesehn und wagte nicht gleich, mich umzudrehn.) Sie war viel kleiner als sonst, hatte die linke Hüfte nicht augenblicksweise, sondern ständig vorstehn, ihr rechtes Bein war eingeknickt, die Bewegung des Halses und Kopfes, die sie ihrem Mann näherte, war sehr eilig, mit dem zur Seite gestreckten eingebogenen rechten Arm suchte sie sich in ihren Mann einzuhängen. Der trug sein Sommerhütchen mit der vorn niedergedrückten Krempe. Als ich mich umdrehte waren sie weg. Ich errieth, dass sie ins Kafe Central gegangen waren, wartete ein wenig auf der anderen Grabenseite und hatte das Glück nach einer langen Weile sie zum Fenster treten zu sehen. Als sie sich zum Tische setzte, sah man nur den Rand ihres mit blauem Sammt überzogenen Pappendeckelhutes. - Im Traum war ich dann in einem sehr schmalen auch nicht übermäßig hohen, glasüberwölbten Durchhaus, ähnlich den ungangbaren Kommunikationen auf primitiven italienischen Bildern, von der Ferne auch einem Durchhaus ähnlich, das wir in Paris gesehen haben, als eine Abzweigung der rue des Petits Champs. Nur war jenes in Paris doch breiter und mit Geschäften angefüllt, dieses aber lief zwischen leeren Wänden hin, ließ im Anblick kaum für zwei nebeneinandergehende Personen Platz, gieng man aber wirklich darin, wie ich mit Frau Tschissik dann war überraschend viel Platz, ohne dass es uns überraschte. Während ich mit Frau T. zu dem einen Ausgang hingieng, in der Richtung zu einem möglichen Beobachter des Ganzen, und Fr. Tschissik sich wegen irgend eines Vergehn (es schien Trunksucht zu sein) gleichzeitig entschuldigte und mich bat ihren Verläumdern nicht zu glauben, peitschte Herr T. am anderen Ende des Durchhauses einen zottigen blonden Bernhardiner, der ihm gegenüber auf den Hinterbeinen stand. Es war nicht ganz deutlich, ob T. mit dem Hund nur spaßte und über ihm seine Frau vernachlässigte oder ob er ernstlich selbst von dem Hund angegriffen war oder ob er schließlich den Hund von uns abhalten wollte.
Mit L. auf dem Quai. Ich hatte einen leichten mein ganzes Wesen unterdrückenden Ohnmachtsanfall, verwand ihn und erinnerte mich nach einer kleinen Weile an ihn, wie an etwas längst Vergessenes.
Selbst wenn ich von allen sonstigen Hindernissen (körperlicher Zustand, Eltern, Charakter) absehe, erziele ich eine sehr gute Entschuldigung dafür, dass ich mich nicht trotz allem auf die Litteratur einschränke, durch folgende Zweiteilung: Ich kann solange nichts für mich wagen, solange ich keine größere, mich vollständig befriedigende Arbeit zustande gebracht habe. Das ist allerdings unwiderleglich.
Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein großes Verlangen, meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so niederzuschreiben dass ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen. Als heute Löwy von seiner Unzufriedenheit sprach und von seiner Gleichgültigkeit allem gegenüber was die Truppe tut, legte ich seinem Zustand als Erklärung laut Heimweh unter, gab ihm aber gewissermaßen diese Erklärung nicht hin trotzdem ich sie ausgesprochen hatte, sondern behielt sie für mich und genoß sie vorübergehend für meine eigene Traurigkeit.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |