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[Tagebuch, 24. November 1911; Freitag]

24 XI 11 Schhite (der welcher die Schächterkunst lernt.) Stück von Gordyn. Darin Talmudcitate z. B. Wenn ein großer Gelehrter abend oder in der Nacht eine Sünde begeht, so darf man sie ihm am Morgen nicht mehr vorwerfen, denn in seiner Gelehrsamkeit hat er sie sicher schon selbst bereut - Stiehlt man einen Ochsen so muß man 2 zurückgeben, schlachtet man den gestohlenen Ochsen, so muß man 4 zurückgeben, schlachtet man aber ein gestohlenes Kalb, so muß man nur 3 zurückgeben, weil angenommen wird, dass man das Kalb wegtragen mußte, also eine schwere Arbeit getan hat. Diese Annahme bestimmt die Strafe auch dann, wenn man das Kalb bequem fortgeführt hat.

Ehrenhaftigkeit schlechter Gedanken. Gestern abend fühlte ich mich besonders elend. Mein Magen war wieder verdorben, ich hatte mit Mühe geschrieben, der Vorlesung Löwys im Kaffeehaus, (das zuerst still war und von uns geschont werden mußte, das sich dann aber belebte und uns nicht in Ruhe ließ) hatte ich mit Anstrengung zugehört, meine traurige nächste Zukunft erschien mir nicht wert in sie einzutreten, verlassen gieng ich durch die Ferdinandstraße. Da kamen mir an der Mündung des Bergstein wieder die Gedanken an die spätere Zukunft. Wie wollte ich sie mit diesem aus einer Rumpelkammer gezogenem Körper ertragen? Auch im Talmud heißt es: Ein Mann ohne Weib ist kein Mensch. Gegenüber solchen Gedanken blieb mir an diesem Abend keine andere Hilfe als dass ich mir sagte: "Jetzt kommt ihr schlechte Gedanken, jetzt weil ich schwach bin und verdorbenen Magen habe. Gerade jetzt wollt ihr euch durchdenken lassen. Nur darauf was Euch wohltut habt ihr es abgesehn. Schämt Euch. Kommt ein anderesmal, wenn ich kräftiger bin. Nützt meinen Zustand nicht so aus. " Und tatsächlich, ohne andere Beweise auch nur abzuwarten, wichen sie zurück, zerstreuten sich langsam und störten mich nicht mehr auf meinem weitern natürlich nicht übermäßig glücklichen Spaziergang. Sie vergaßen aber offenbar, dass sie, wenn sie alle meine schlechten Zustände respektieren wollen, selten an die Reihe kommen werden.

Durch den Benzingeruch eines vom Teater her fahrenden Automobils wurde ich darauf aufmerksam, wie sichtbar auf die mir entgegenkommenden Teaterbesucher die mit letzten Griffen ihre Mäntel und hängenden Gucker in Ordnung bringen, eine schöne Häuslichkeit wartet (und sei sie auch nur von einer Kerze beleuchtet, so ist es ja vor dem Schlafengehn recht) wie sie aber auch aus dem Teater nach hause geschickt erscheinen, als untergeordnete Personen, vor denen der Vorhang zum letztenmal niedergegangen ist und hinter denen sich die Türen geöffnet haben, durch die sie vor Anfang oder während des ersten Aktes hochmütig wegen irgend einer lächerlichen Sorge eingetreten sind.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at