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[Tagebuch, 19. November 1911; Sonntag]

19. XI 11 So.

Traum: Im Teater. Vorstellung "das weite Land" von Schnitzler bearbeitet von Utitz. Ich sitze ganz vorn in einer Bank, glaube in der ersten zu sitzen, bis sich schließlich zeigt, dass es die zweite ist. Die Rückenlehne der Bank ist der Bühne zugekehrt, so dass man den Zuschauerraum bequem, die Bühne erst nach einer Drehung sehen kann. Der Verfasser ist irgendwo in der Nähe, ich kann mit meinem schlechten Urteil über das Stück, das ich offenbar schon kenne nicht zurückhalten, füge aber dafür hinzu, dass der dritte Akt witzig sein soll. Mit diesem "soll" will ich wieder sagen, dass ich, wenn von den guten Stellen gesprochen wird, das Stück nicht kenne und mich auf das Hörensagen verlassen muß; dafür wiederhole ich diese Bemerkung noch einmal nicht nur für mich, aber doch von den andern nicht beachtet. Rings um mich herum ist ein großes Gedränge, alles scheint in seinen Winterkleidern gekommen zu sein und füllt daher die Plätze übermäßig aus. Leute neben mir, hinter mir die ich nicht sehe sprechen auf mich ein, zeigen mir Neuankommende, nennen die Namen, besonders werde ich auf ein durch eine Sesselreihe sich drängendes Ehepaar aufmerksam gemacht, da die Frau ein dunkelgelbes, männliches, langnasiges Gesicht hat und überdies soweit man im Gedränge aus dem ihr Kopf ragt sehen kann, Männerkleidung trägt; neben mir steht merkwürdig frei der Schauspieler Löwy, dem wirklichen aber sehr unähnlich und hält aufgeregte Reden, in denen das Wort "principium" sich wiederholt, ich erwarte immerfort das Wort "tertium comparationis", es kommt nicht. In einer Loge des zweiten Ranges eigentlich nur in einem Winkel der Gallerie, von der Bühne aus rechts, die sich dort an die Logen anschließt, steht irgend ein dritter Sohn der Familie Kisch hinter seiner sitzenden Mutter und redet in das Teater, angezogen in einen schönen Kaiserrock, dessen Flügel ausgebreitet sind. Die Reden des Löwy haben eine Beziehung zu diesen Reden. Unter anderem zeigt Kisch hoch oben auf eine Stelle des Vorhangs und sagt, dort sitzt der deutsche Kisch, damit meint er meinen Schulkollegen, der Germanistik studiert hat. Als der Vorhang aufgeht das Teater sich zu verdunkeln anfängt und Kisch so wie so verschwinden würde, zieht er um dies deutlicher zu machen, mit seiner Mutter die Gallerie aufwärts und weg, wieder alle Arme Röcke und Beine sehr ausgebreitet. Die Bühne liegt etwas tiefer als der Zuschauerraum, man schaut hinunter, das Kinn auf der Rückenlehne. Die Dekoration besteht hauptsächlich in zwei niedrigen dicken Säulen in der Mitte der Bühne. Ein Gastmahl wird dargestellt, an dem sich Mädchen und junge Männer beteiligen. Ich sehe wenig, denn obgleich mit Beginn des Spiels viele Leute gerade aus den ersten Bänken weggegangen sind offenbar hinter die Bühne, verdecken die zurückbleibenden Mädchen mit großen flachen, meist blauen über die ganze Länge der Bank hin- und herrückenden Hüten die Aussicht. Einen kleinen 10 - 15 jährigen Jungen sehe ich jedoch auf der Bühne besonders klar. Er hat trockenes, gescheiteltes, gerade geschnittenes Haar. Er weiß nicht einmal richtig die Serviette auf seine Oberschenkel zu legen, muß zu diesem Zweck aufmerksam hinunterschauen und soll in diesem Stück einen Lebemann spielen. Infolge dieser Beobachtung habe ich kein großes Vertrauen zu diesem Teater mehr. Die Gesellschaft auf der Bühne erwartet nun verschiedene Ankömmlinge die aus den ersten Zuschauerreihen auf die Bühne hinunter steigen. Das Stück ist aber auch nicht gut einstudiert. So kommt eine Schauspielerin Hackelberg eben an, ein Schauspieler spricht sie weltmännisch in seinem Fauteuil lehnend mit "Hackel-" an, bemerkt jetzt den Irrtum und korrigiert sich. Nun kommt ein Mädchen an, das ich kenne (Frankel heißt sie glaub ich), sie steigt gerade an meinem Platz über die Lehne, ihr Rücken ist als sie hinüber steigt, ganz nackt, die Haut nicht sehr rein über der rechten Hüfte ist sogar eine aufgekratzte, blutunterlaufene Stelle, in der Größe eines Türknopfes. Sie spielt dann aber, als sie sich auf der Bühne wendet und mit reinem Gesicht dasteht, sehr gut. Nun soll ein singender Reiter aus der Ferne im Galopp sich nähern, ein Klavier täuscht das Hufeklappern vor man hört den sich nähernden stürmischen Gesang, endlich sehe ich auch den Sänger der um dem Gesang das natürliche Anschwellen des eilend herannahenden zu geben, die Gallerie oben entlang läuft zur Bühne. Noch ist er nicht bei der Bühne auch mit dem Lied noch nicht zuende und doch hat er das Äußerste an Eile und schreiendem Gesang hergegeben, auch das Klavier kann nicht mehr deutlicher die auf Steine schlagenden Hufe nachahmen. Daher lassen beide ab und der Sänger kommt mit ruhigem Gesang heran, nur macht er sich so klein, dass nur sein Kopf über die Galleriebrüstung ragt, damit man ihn nicht so deutlich sieht. Damit ist der erste Akt zuende, aber der Vorhang geht nicht hinunter, auch das Teater bleibt dunkel. Auf der Bühne sitzen 2 Kritiker auf dem Boden und schreiben mit dem Rücken an einer Dekoration lehnend. Ein Dramaturg oder Regisseur mit blondem Spitzbart kommt auf die Bühne gesprungen, im Flug noch streckt er eine Hand zu einer Anordnung aus; in der andern Hand trägt er eine Weintraube, die früher auf einer Obstschale des Gastmahls lag und ißt von ihr. Wieder dem Zuschauerraum zugewendet, sehe ich, dass er mit einfachen Petroleumlaternen beleuchtet ist, die wie in Gassen auf einfachen Kandelabern aufgesteckt sind und jetzt natürlich nur ganz schwach brennen. Plötzlich, unreines Petroleum oder eine schadhafte Stelle im Docht wird die Ursache sein, spritzt das Licht aus einer solchen Laterne und Funken gehn in breitem Stoße auf die Zuschauer nieder die für den Blick nicht zu entwirren sind und eine Masse schwarz wie Erde bilden. Da steht ein Herr aus dieser Masse auf, geht förmlich auf ihr näher zur Laterne hin, will offenbar die Sache in Ordnung bringen, schaut aber zuerst zur Laterne hinauf, bleibt ein Weilchen so neben ihr stehn und als nichts geschieht, geht er ruhig wieder zu seinem Platz zurück, in dem er versinkt. (Ich verwechsle mich mit ihm und neige das Gesicht ins Schwarze.)

Ich und Max müssen doch grundverschieden sein. So sehr ich seine Schriften bewundere, wenn sie als meinem Eingriff und jedem andern unzugängliches Ganze vor mir liegen, selbst heute eine Reihe kleiner Buchbesprechungen, so ist doch jeder Satz, den er für Richard und Samuel schreibt, mit einer widerwilligen Koncession von meiner Seite verbunden, die ich schmerzlich bis in meine Tiefe fühle. Wenigstens heute.

Heute abend war ich wieder voll ängstlich zurückgehaltener Fähigkeit.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at