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[Tagebuch, 11. November 1911; Samstag]

11. XI 11 Samstag. Gestern den ganzen Nachmittag bei Max. Die Reihenfolge der Aufsätze für die "Schönheit häßlicher Bilder" festgesetzt. Ohne gutes Gefühl. Gerade dann aber liebt mich Max am meisten oder scheint es mir nur, weil ich mir meines geringen Verdienstes so deutlich dann bewußt bin. Nein er liebt mich wirklich mehr. Er will in das Buch auch mein Brescia aufnehmen. Alles Gute in mir wehrt sich dagegen. Ich sollte heute mit ihm nach Brünn. Alles Schlechte und Schwache in mir hat mich zurückgehalten. Denn dass ich morgen wirklich etwas Gutes schreiben sollte, kann ich nicht glauben.

Die von ihren Arbeitschürzen besonders hinten fest umspannten Mädchen. Eine bei Löwy und Winterberg heute vormittag, bei der die Lappen der nur auf dem Hintern geschlossenen Schürze, sich nicht wie gewöhnlich aneinanderfügten, sondern über einander hinweggiengen, so dass sie eingewickelt war wie ein Wickelkind. Sinnlicher Eindruck dessen wie ich ihn auch unbewußt immer von Wickelkindern hatte, die so in ihre Windeln und Betten gepreßt und mit Bändern zugeschnürt sind, ganz wie zur Befriedigung einer Lust.

Edison hat in einem amerikanischen Interview über seine Reise durch Böhmen erzählt, seiner Meinung beruhe die verhältnismäßig höhere Entwicklung Böhmens (in den Vorstädten sind breite Gassen, Gärtchen vor den Häusern, bei der Fahrt durchs Land sieht man Fabriken bauen) darauf, dass die Auswanderung der Tschechen nach Amerika so groß ist und dass die einzelweise von dort Zurückkehrenden neues Streben von dort mitbringen.

Sobald ich irgendwie erkenne, dass ich Übelstände, zu deren Beseitigung ich eigentlich bestimmt wäre (z. B. das äußerst zufriedene, von mir aus gesehen trostlose Leben meiner verheirateten Schwester) auf sich beruhen lasse, verliere ich auf einen Augenblick das Gefühl meiner Armmuskeln.

Ich werde versuchen, allmählich alles Zweifellose an mir zusammenzustellen, später das Glaubwürdige, dann das

Mögliche u. s. w. Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern. Nicht eigentlich sie zu besitzen oder zu lesen, als vielmehr sie zu sehn, mich in der Auslage eines Buchhändlers von ihrem Bestand zu überzeugen. Sind irgendwo mehrere Exemplare des gleichen Buches freut mich jedes einzelne. Es ist, als ob diese Gier vom Magen ausgienge, als wäre sie ein irregeleiteter Appetit. Bücher die ich besitze freuen mich weniger, dagegen Bücher meiner Schwestern freuen mich schon. Das Verlangen sie zu besitzen ist ein unvergleichlich kleineres, es fehlt fast.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at