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[Tagebuch, 8. November 1911; Mittwoch]
8 XI 11 den ganzen Nachmittag beim Doktor wegen der Fabrik.
Das Mädchen, das nur deshalb, weil es in ihren Geliebten eingehängt gieng, ruhig umhersah.
Die Contoristin bei Karl erinnerte mich an die Darstellerin der Manette Salomon im Odeon in Paris vor 1 1/2 Jahren. Zumindest wenn sie saß. Ein weicher mehr breiter als hoher von wolligem Stoff gedrückter Busen. Ein bis zum Mund breites, dann aber schnell sich verschmälerndes Gesicht. In einer glatten Frisur vernachlässigte natürliche Locken. Eifer und Ruhe in einem starken Körper. Die Erinnerung verstärkte sich, wie ich jetzt merke auch daran, dass sie fest arbeitete [an ihrer Schreibmaschine flogen die Stäbchen (Oliversystem) wie die Stricknadeln in alter Zeit] auch hin und her gieng, aber kaum paar Worte in einer halben Stunde sprach, als halte sie Manette Salomon in sich.
Als ich beim Doktor wartete sah ich das eine Schreibfräulein an und dachte darüber nach, wie schwer ihr Gesicht selbst während des Anblicks festzustellen sei. Besonders die Beziehung zwischen einer auseinandergezogenen ringsherum fast in gleicher Breite über den Kopf vorragenden Frisur zu der meist zu lang erscheinenden geraden Nase verwirrte. Bei einer auffallenderen Wendung des gerade ein Aktenstück lesenden Mädchens wurde ich durch die Beobachtung fast betroffen, dass ich durch mein Nachdenken dem Mädchen fremder geblieben war, als wenn ich mit dem kleinen Finger ihren Rock gestreift hätte.
Als der Doktor im Vorlesen des Vertrages zu einer Stelle kam, die von meiner möglichen künftigen Frau und den möglichen Kindern handelte bemerkte ich mir gegenüber einen Tisch mit zwei großen und einem kleineren Sessel um ihn herum. Bei dem Gedanken, dass ich niemals imstande sein werde, diese oder beliebige 3 Sessel mit mir, meiner Frau und meinem Kind zu besetzen, bekam ich ein von allem Anfang so verzweifeltes Verlangen nach diesem Glück, dass ich aus dieser gereizten Aktivität meine während des langen Vorlesens einzig bleibende Frage an den Doktor stellte, die sofort mein vollständiges Mißverstehn einer größeren gerade vorgelesenen Partie des Vertrages enthüllte.
der weitere Abschied: An Pipes bemerkte ich, weil ich mich von ihm unterdrückt fühlte, vor allem die gekerbten und dunkel punktierten Enden seiner Zähne. Endlich bekam ich einen halben Einfall. "Warum so weit bis nach Nürnberg in einem Zuge fahren?" fragte ich, "warum nicht in einer kleineren Zwischenstation ein, zwei Vorstellungen geben?" Kennen Sie eine solche? fragte Fr. Tsch. bei weitem nicht so scharf wie ich es schreibe und zwang mich dadurch sie anzusehn. Ihr ganzer über dem Tisch sichtbarer Körper die ganze Runde von Schultern, Rücken und Brust war weich, trotz ihres auf der Bühne im europäischen Kleid knochigen fast rohen Baues. Ich nannte lächerlicher Weise Pilsen. Stammgäste am Nebentisch nannten sehr vernünftig Teplitz. Hr. Tsch. wäre für jede Zwischenstation eingetreten, er hat." nur Vertrauen zu kleinen Unternehmungen, Fr. Tsch. ebenso ohne dass sie sich viel mit einander verständigten, außerdem fragt sie ringsherum nach den Fahrpreisen, öfters sagten sie: es wäre ja genug wenn man auf parnusse verdiene, Ihr Mädchen reibt die Wange an ihrem Arm; sie fühlt es sicher nicht, aber für den Erwachsenen ergibt sich die kindliche Überzeugung dass einem Kind bei seinen Eltern, selbst wenn sie wandernde Schauspieler sind, nichts geschehen kann und dass sich die wirklichen Sorgen so nahe an der Erde nicht vorfinden, sondern erst in der Gesichtshöhe der Erwachsenen. Ich war sehr für Teplitz, weil ich ihnen einen Empfehlungsbrief für Dr. Polacek mitgeben und mich so für Fr. Tschissik einsetzen konnte. Unter Widerspruch des Pipes, der selbst die Lose für die 3 möglichen Städte herstellte und die Verlosung mit Lebhaftigkeit leitete, wurde Teplitz zum drittenmale gezogen. Ich gieng zum Nebentisch und schrieb aufgeregt den Empfehlungsbrief. Mit der Ausrede, dass ich nachhause gehen müßte um die genaue Adresse des Dr. P. zu erfahren, die übrigens nicht nötig war und die man auch zu hause nicht kannte, empfahl ich mich. Verlegen spielte ich, während Löwy sich bereit machte mich zu begleiten, mit der Hand der Frau und dem Kinn ihres Mädchens.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |