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[Tagebuch, 7. November 1911; Dienstag]
7. XI 11 Dienstag Gestern sind die Schauspieler mit Fr. Tschissik endgiltig weggefahren. Ich begleitete Löwy am Abend zum Kaffeehaus, wartete aber draußen, wollte nicht hinein, wollte nicht Fr. Tschissik sehn. Aber wie ich auf und ab gieng, sah ich sie die Tür öffnen und mit Löwy herauskommen, ich gieng ihnen grüßend entgegen und traf sie in der Mitte der Fahrbahn. Fr. Tsch. dankte mir mit den großen aber natürlichen Vokalen ihrer Aussprache für meinen Strauß, erst jetzt hätte sie erfahren, dass er von mir sei. Dieser Lügner Löwy hatte ihr also nichts gesagt. Ich hatte Angst um sie, weil sie nur eine leichte dunkle Bluse mit kurzen Ärmeln trug und ich bat sie - bald hätte ich sie angerührt um sie zu treiben - ins Lokal hineinzugehn, damit sie sich nicht verkühle. Nein sagte sie, sie verkühle sich nicht, sie habe ja einen Shawl und sie hob ihn ein wenig, um ihn zu zeigen, und zog ihn dann enger um die Brust zusammen. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich nicht eigentlich Angst um sie hätte sondern nur froh sei, ein Gefühl gefunden zu haben, in dem ich meine Liebe genießen könnte und deshalb sagte ich ihr wieder, ich hätte Angst. Inzwischen war auch ihr Mann, ihre Kleine und Hr. Pipes herausgekommen und es zeigte sich, dass es durchaus nicht bestimmt war, dass sie nach Brünn reisen sollten, wie mir Löwy eingeredet hatte, vielmehr war Pipes sogar entschlossen, nach Nürnberg zu fahren. Das sei das beste, ein Saal sei leicht zu bekommen, die Judengemeinde sei groß, weiterhin die Reise nach Leipzig und Berlin sehr bequem. Übrigens hätten sie den ganzen Tag beraten und Löwy, der bis 4 geschlafen habe, hätte sie einfach warten und den Brünner 1/2 8 Zug versäumen lassen. Unter diesen Argumenten giengen wir ins Lokal und setzten uns an einen Tisch, ich Frau Tsch. gegenüber. Ich hätte mich so gerne ausgezeichnet, an und für sich war es nicht schwer, ich hätte nur einige Zug verbindungen kennen, die Bahnhöfe unterscheiden, die Entscheidung zwischen Nürnberg oder Brünn herbeiführen, vor allem aber den Pipes niederschreien müssen, der sich wie sein Bar-Kochba aufführte und dessen Geschrei Löwy sehr vernünftig wenn auch ohne Absicht ein sehr rasches, nicht zu unterbrechendes, für mich wenigstens damals ziemlich unverständliches, mittelstarkes Schwätzen entgegenstellte. Statt mich nun auszuzeichnen, saß ich zusammengesunken in meinem Sessel sah von Pipes zu Löwy hinüber und nur hie und da auf diesem Weg traf ich die Augen der Fr. Tsch.; wenn sie aber mit einem Blick mir antwortete (sie mußte mir z. B. nur zulächeln wegen der Aufgeregtheit von Pipes) sah ich weg. Sinnlos war das nicht. Zwischen uns konnte es kein Lächeln über des Pipes Aufgeregtheit geben. Dazu war ich ihrem Gesicht gegenüber zu ernst und von diesem Ernst ganz müde. Wenn ich über irgend etwas lachen wollte, konnte ich über ihre Schulter weg die dicke Frau anschauen, die in Bar-Kochba die Statthalterin gespielt hatte. Aber ich konnte sie eigentlich auch nicht ernst ansehn. Denn das hätte geheißen, dass ich sie liebe. Sogar der junge Pipes hinter mir in seiner ganzen Unschuld hätte das erkennen müssen. Und das wäre wirklich unerhört gewesen. Ich ein junger Mensch den man allgemein für 18 Jahre alt hält, erklärt vor den Abendgästen des Cafe Savoy, im Kreis der herumstehenden Kellner, vor der Tischrunde der Schauspieler einer 30 jährigen Frau, die kaum jemand auch nur für hübsch hält, die 2 Kinder von 10 u. 8 Jahren hat, deren Mann neben ihr sitzt, die ein Muster von Ehrbarkeit und Sparsamkeit ist - erklärt dieser Frau seine Liebe, der er ganz verfallen ist, und - jetzt kommt das eigentlich Merkwürdigere, das allerdings niemand mehr bemerkt hätte - verzichtet sogleich auf die Frau, so wie er selbst dann auf sie verzichten würde, wenn sie jung und ledig wäre. Soll ich dankbar sein oder soll ich fluchen, dass ich trotz allem
Unglück noch Liebe fühlen kann, eine unirdische allerdings zu irdischen Gegenständen. Schön war Fr. Tschissik gestern. Die eigentlich normale Schönheit der kleinen Hände, der leichten Finger, der gewalzten Unterarme, die in sich so vollkommen sind, dass selbst der doch ungewohnte Anblick dieser Nacktheit nicht an den übrigen Körper denken läßt. Das in 2 Wellen geteilte vom Gaslicht hell beleuchtete Haar. Die ein wenig unreine Haut um den rechten Mundwinkel. Wie zu kindlicher Klage öffnet sich ihr Mund, oben und unten in zart geformte Buchtungen verlaufend, man denkt dass diese schöne Wortbildung, die das Licht der Vokale in den Worten verbreitet und mit der Zungenspitze die reine Kontur der Worte bewahrt, nur einmal gelingen kann und staunt das immerwährende an. Niedrige weiße Stirn. Das Puder, dessen Verwendung ich bisher gesehen habe, hasse ich, wenn aber diese weiße Farbe, dieser niedrig über der Haut schwebende Schleier von etwas getrübter Milchfarbe vom Puder herrührt, dann sollen sich alle pudern. Sie hat gern zwei Finger am rechten Mundwinkel, vielleicht hat sie auch die Fingerspitzen in den Mund gesteckt, ja vielleicht hat sie sogar einen Zahnstocher in den Mund geführt; ich habe diese Finger nicht genau angesehn, es sah aber fast so aus, als hätte sie einen Zahnstocher in einen hohlen Zahn geführt und ließe ihn dort 1/4 stundenlang ruhen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |