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[Tagebuch, 5. November 1911; Sonntag]
5. XI 11 Gestern geschlafen nach Bar-Kochba.
von 7 ab mit Löwy, Brief seines Vaters vorgelesen. Abend bei Baum.
Ich will schreiben mit einem ständigen Zittern auf der Stirn. Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt durch das Vorzimmer wie durch eine Pariser Gasse ins Unbestimmte rufend ob denn des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem kurzen Singen einer Frauenstimme und schließt sich mit einem dumpfen männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere zerstreutere hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir aber von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.
Die Bitterkeit, die ich gestern abend fühlte als Max bei Baum meine kleine Automobilgeschichte vorlas. Ich war gegen alle abgeschlossen und gegen die Geschichte hielt ich förmlich das Kinn in die Brust gedrückt. Die ungeordneten Sätze dieser Geschichte mit Lücken dass man beide Hände dazwischen stecken könnte; ein Satz klingt hoch, ein Satz klingt tief wie es kommt; ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn; ein Satz kommt mit einem so rohen Anfang anmarschiert, dass die ganze Geschichte in ein verdrießliches Staunen geräth; eine verschlafene Nachahmung von Max (Vorwürfe gedämpft - - angefeuert) schaukelt hinein, manchmal sieht es aus wie ein Tanzkurs in seiner ersten Viertelstunde. Ich erkläre es mir damit, dass ich zu wenig Zeit und Ruhe habe um die Möglichkeiten meines Talentes in ihrer Gänze aus mir zu heben. Es kommen daher immer nur abreißende Anfänge zu Tage, abreißende Anfänge z. B. die ganze Automobilgeschichte durch. Würde ich einmal ein größeres Ganzes schreiben können wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende, dann könnte sich auch die Geschichte niemals endgiltig von mir loslösen und ich dürfte ruhig und mit offenen Augen als Blutsverwandter einer gesunden Geschichte ihrer Vorlesung zuhören, so aber lauft jedes Stückchen der Geschichte heimatlos herum und treibt mich in die entgegengesetzte Richtung. - Dabei kann ich noch froh sein, wenn diese Erklärung richtig ist.
Aufführung von Bar-Kochba von Goldfaden.
Falsche Beurteilung des Stückes im ganzen Saal und auf der Bühne. Ich hatte für Frau Tschissik einen Strauß mitgebracht mit einer angehängten Visitkarte mit der Inschrift aus Dankbarkeit und wartete auf den Augenblick, wo ich sie ihr überreichen lassen könnte. Nun hatte die Vorstellung spät angefangen, die Hauptscene der Frau Tschissik war mir erst für den 4 Akt versprochen, vor Ungeduld und Angst die Blumen könnten welken, ließ ich durch den Kellner schon während des 3ten Aktes (es war 11 Uhr) die Blumen auspacken, nun lagen sie seitwärts auf einem Tisch, das Küchenpersonal und einige schmutzige Stammgäste reichten sie einander und rochen an ihnen, ich konnte nur besorgt und wütend hinschauen sonst nichts, während ihrer Hauptszene im Gefängnis liebte ich Fr. Tschissik und drängte sie doch innerlich Schluß zu machen, endlich war der Akt für meine Zerstreutheit unbemerkt zuende gegangen, der Oberkellner reichte die Blumen, Fr. T. nahm sie zwischen den zusammenschlagenden Vorhängen, sie verbeugte sich in einer kleinen Spalte des Vorhanges und kam nicht mehr zurück. Niemand bemerkte meine Liebe und ich hatte sie allen zeigen und dadurch für Fr. T. wertvoll machen wollen, kaum dass man den Strauß bemerkte. Dabei war schon 12 vorüber alles war müde, einige Zuschauer waren schon früher weggegangen, ich hatte Lust gehabt ihnen mein Glas nachzuwerfen. - Mit mir war der Kontrollor Pokorny aus unserer Anstalt ein Christ. Er, den ich sonst gern habe, störte mich. Meine Sorge waren die Blumen, nicht seine Angelegenheiten. Dabei wußte ich, dass er das Stück schlecht auffasse, während ich keine Zeit, Lust und Fähigkeit hatte ihm eine Hilfe aufzudrängen, die er nicht zu brauchen glaubte. Endlich schämte ich mich vor ihm, dass ich selbst so schlecht achtgab. Auch störte er mich im Verkehr mit Max und sogar durch die Erinnerung daran, dass ich ihn vorher gern hatte, nachher wieder gern haben würde und dass er mein heutiges Benehmen übel nehmen könnte. - Aber nicht nur ich war so gestört. Max fühlte sich wegen seines Lobartikels in der Zeitung verantwortlich. Den Juden in Bergmanns Begleitung war es zu spät. Die Mitglieder des Vereins Bar-Kochba waren wegen des Namens des Stückes gekommen und mußten enttäuscht sein. Da ich Bar-Kochba nur aus diesem Stücke kenne, hätte ich keinen Verein so genannt. Hinten im Saal waren zwei Ladenmädchen in ihrem Dirnenabendkleid mit den Liebhabern und mußten während Sterbescenen durch laute Rufe zur Ruhe gebracht werden. Endlich schlugen Leute auf der Gasse gegen die großen Scheiben aus Ärger darüber, dass sie so wenig von der Bühne sahen.
Auf der Bühne fehlten die Klugs. Lächerliche Statisten. "Rohe Juden" wie Löwy sagte. Geschäftsreisende, die übrigens auch kein Honorar bekamen. Sie hatten meistens nur damit zu tun, ihr Lachen zu verbergen oder zu genießen, wenn sie es auch sonst gut meinten. Ein rundbackiger mit blondem Bart, demgegenüber man sich kaum vor Lachen beherrschen konnte, lachte infolge der Unnatur des angeklebten sich schüttelnden Vollbartes der seine Wangen bei dem allerdings nicht vorgesehenen Lachen falsch begrenzte, besonders komisch. Ein zweiter lachte nur wenn er wollte, aber dann viel. Als Löwy singend starb, in den Armen dieser zwei Ältesten sich wand, langsam mit dem abschwellenden Gesang zur Erde gleiten sollte, steckten sie hinter seinem Rücken die Köpfe zusammen, um sich endlich einmal vom Publikum ungesehn (wie sie meinten) sattlachen zu können. Noch gestern als ich mich beim Mittagmahl daran erinnerte, mußte ich lachen. - Fr. Tschissik muß im Gefängnis dem sie besuchenden betrunkenen römischen Statthalter (der j. Pipes) den Helm abnehmen und sich ihn selbst aufsetzen. Als sie ihn abnimmt, fällt ein zusammengedrücktes Handtuch heraus, das Pipes offenbar hineingestopft hat, weil ihn der Helm zu sehr drückte. Trotzdem er jedoch wissen mußte, dass ihm der Helm auf der Bühne abgenommen wird, schaut er Frau Tschissik an seine Betrunkenheit vergessend vorwurfsvoll an. - Schönes: wie Frau T. unter den Händen der römischen Soldaten (die sie allerdings erst zu sich reißen mußte, denn sie fürchteten sich offenbar sie anzurühren) sich wand, während die Bewegungen der drei Menschen durch ihre Sorge und Kunst fast nur fast dem Rythmus des Gesanges folgten; das Lied, in dem sie die Erscheinung des Messias ankündigt und ohne zu stören nur infolge ihrer Macht Harfenspiel durch Bewegungen der Violinbogenführung darstellt; im Gefängnis, wo sie beim öfteren Herannahen von Schritten ihren Trauergesang unterbricht, zur Tretmühle eilt und sie bei einem Arbeiterlied dreht, dann wieder zu ihrem Gesang wegläuft und wieder zur Mühle, wie sie im Schlaf singt, als Papus sie besucht, und ihr Mund geöffnet ist wie ein blinzelndes Auge, wie überhaupt ihre Mundwinkel beim Sichöffnen an die Winkel der Augen erinnern. - Im weißen Schleiertuch, wie im schwarzen war sie schön. - Neu an ihr erkannte Bewegungen: Drücken der Hand in die Tiefe des nicht sehr guten Mieders, kurzes Zucken der Schultern und Hüften beim Hohn, besonders wenn sie dem Verhöhnten den Rücken zukehrt. - Sie hat die ganze Vorstellung geleitet wie eine Hausmutter. Sie hat allen eingesagt, selbst aber niemals gestockt; sie hat die Statisten belehrt, gebeten endlich gestoßen wenn es sein mußte; ihre helle Stimme mischte sich, wenn sie nicht auf der Bühne war, in den schwachen Chorgesang auf der Bühne; sie hielt die spanische Wand (die im letzten Akt eine Citadelle darstellen sollte), welche die Statisten zehnmal umgeworfen hätten. - Ich hatte gehofft, durch den Blumenstrauß meine Liebe zu ihr ein wenig zu befriedigen, es war ganz nutzlos. Es ist nur durch Litteratur oder durch den Beischlaf möglich. Ich schreibe das nicht, weil ich es nicht wußte, sondern weil es vielleicht gut ist Warnungen oft aufzuschreiben.
Bar-Kochba: Jüdischer Studentenverein.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |