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[Tagebuch, 3. November 1911; Freitag]
3 XI 11 um zu beweisen, dass beides falsch war, was ich aufgeschrieben hatte, ein Beweis der fast unmöglich scheint, kam Löwy gestern am Abend selbst und unterbrach mich im Schreiben
Die Gewohnheit Karls alles mit gleichem Stimmklang zu wiederholen. Er erzählt jemandem eine Geschichte aus seinem Geschäft zwar nicht mit so vielen Details dass sie an sich die Geschichte endgiltig erledigen würden, aber immerhin in einer langsamen und nur dadurch gründlichen Weise als eine Mitteilung, die nichts anderes sein will und daher mit ihrer Beendigung auch abgetan ist. Ein Weilchen vergeht mit einer andern Sache, er findet unversehens einen Übergang zu seiner Geschichte und zieht sie in ihrer alten Form, fast ohne Ergänzung, aber auch fast ohne Weglassung wieder hervor, mit der Harmlosigkeit eines Menschen, der ein ihm meuchlings am Rücken angeheftetes Band im Zimmer umherführt. Nun lieben ihn meine Eltern besonders, fühlen daher seine
Gewohnheiten stärker, als sie sie bemerken - und so trifft es sich, dass sie, meine Mutter vor allen, unbewußt ihm Gelegenheit zu Wiederholungen geben. Wenn der Augenblick für die Wiederholung einer Geschichte an einem Abend nicht recht kommen will, so ist die Mutter da, die frägt undzwar mit einer Neugierde, die selbst nach getaner Frage nicht aufhört, wie man erwarten sollte. Und hinter Geschichten, die schon wiederholt sind und aus eigener Kraft nicht mehr kommen könnten, jagt förmlich mit ihren Fragen die Mutter noch nach Abenden. Die Gewohnheit Karls ist aber eine so regierende, dass sie oft Kraft hat sich vollständig zu rechtfertigen. Kein Mensch kommt mit einer so regelmäßigen Häufigkeit in die Lage, eine Geschichte die im Grunde alle angeht einzelnen Familienmitgliedern zu erzählen. Die Geschichte muß dann dem in solchen Fällen langsam in Zwischenräumen immer nur um eine Person anwachsenden Familienkreise fast so oft erzählt werden, als Personen da sind. Und weil ich derjenige bin, der Karls Gewohnheit allein erkannt hat, bin ich auch meist derjenige, der die Geschichte zuerst hört und dem die Wiederholungen nur die kleine Freude der Bestätigung einer Beobachtung machen.
Neid über einen angeblichen Erfolg Baums den ich doch so liebe. Hiebei das Gefühl, mitten im Leib einen Knäuel zu haben, der sich rasch aufwickelt mit unendlich vielen Fäden, die er vom Rande meines Leibes zu sich spannt.
Löwy - Mein Vater über ihn: Wer sich mit Hunden zu Bett legt steht mit Wanzen auf. Ich konnte mich nicht halten und sagte etwas ungeordnetes. Darauf der Vater besonders ruhig (allerdings nach einer großen Pause die anders ausgefüllt war): "Du weißt dass ich mich nicht aufregen darf und geschont werden muß. Komm mir also noch mit solchen Sachen. Ich habe der Aufregungen gerade genug, vollständig genug. Also laß mich mit solchen Reden." Ich sage: "Ich strenge mich an, mich zurückzuhalten" und fühle beim Vater wie immer in solchen äußersten Augenblicken das Dasein einer Weisheit von der ich nur einen Athemzug erfassen kann.
Tod des Großvaters von Löwy, eines Mannes, der eine offene Hand hatte, einige Sprachen kannte, größere Reisen tief nach Rußland gemacht hatte und der einmal Samstag bei einem Wunderrabbi in Jekaterinoslaw zu essen sich weigerte, weil ihm das lange Haar und ein färbiges Halstuch des Sohnes jenes Rabbi die Frömmigkeit des Hauses verdächtig machte. - Das Bett war mitten im Zimmer aufgestellt, die Kerzenhalter der Freunde und Verwandten waren ausgeliehen, das Zimmer also voll Licht und Rauch der Kerzen. An 40 Männer standen den ganzen Tag um sein Bett, um sich an dem Sterben eines frommen Mannes aufzurichten. Er war bis zu seinem Ende bei Bewußtsein und fieng im richtigen Augenblick die Hand auf der Brust die Gebete aufzusagen an, die für diese Zeit bestimmt sind. Während seines Leidens und nach seinem Tode weinte die Großmutter, die bei den im Nebenzimmer versammelten Frauen war unaufhörlich während des Sterbens aber war sie ganz ruhig weil es ein Gebot ist, dem Sterbenden den Tod nach Kräften zu erleichtern. Mit seinen eigenen Gebeten gieng er hin. Um diesen Tod nach einem so frommen Leben wurde er viel beneidet.
Pessachfest. Eine Vereinigung reicher Juden mietet eine Bäckerei, ihre Mitglieder übernehmen alle Verrichtungen bei der Herstellung der sog. 18 Minuten-Mazzes für die Oberhäupter der Familien: das Holen des Wassers, das Koschern, das Kneten, das Schneiden, das Durchlochen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |