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[Tagebuch, 1. November 1911; Mittwoch]
1 XI 11 Heute Geschichte des Judentums von Grätz gierig und glücklich zu lesen angefangen. Weil mein Verlangen danach das Lesen weit überholt hatte, war es mir zuerst fremder als ich dachte und ich mußte hie und da einhalten, um durch Ruhe mein Judentum sich sammeln zu lassen. Gegen Schluß ergriff mich aber schon die Unvollkommenheit der ersten Ansiedlungen im neu eroberten Kanaan und die treue Überlieferung der Unvollkommenheit der Volksmänner (Josuas, der Richter, Elis)
Gestern abend Abschied von Frau Klug. Wir (ich u. Löwy) liefen den Zug entlang und sahen Frau Klug hinter einem geschlossenen Fenster des letzten Waggons im Dunkel herausschauen. Rasch streckte sie den Arm gegen uns noch drinnen im Coupee, stand auf, öffnete das Fenster, in dem sie einen Augenblick breit mit dem offenen Überkleid stand, bis ihr gegenüber der dunkle Herr Klug sich erhob, der den Mund nur groß und verbittert öffnen und ihn nur knapp wie für immer schließen kann. Ich habe Hr. Klug in den 15 Minuten nur wenig angesprochen und vielleicht nur zwei Augenblicke angeschaut, sonst konnte ich unter schwachem, unterbrochenem Gespräch die Augen von Frau Klug nicht abwenden. Sie war vollständig von meiner Gegenwart beherrscht, aber mehr in ihrer Einbildung als wirklich. Wenn sie sich an Löwy mit der wiederkehrenden Einleitung "Du, Löwy" wendete, sprach sie für mich, wenn sie sich an ihrem Mann drückte, der sie manchmal nur mit ihrer rechten Schulter beim Fenster ließ und ihr Kleid und den aufgebauschten Überzieher preßte, strengte sie sich an mir damit ein leeres Zeichen zu geben. Der erste Eindruck den ich bei den Vorstellungen hatte, dass ich ihr nicht besonders angenehm war, wird wohl der richtige gewesen sein, mich forderte sie selten zum Mitsingen auf, wenn so ohne Laune, wenn sie mich etwas fragte antwortete ich leider falsch ("verstehn Sie das?" ich sagte "ja" sie wollte aber "nein" um zu antworten "ich auch nicht") ihre Ansichtskarten bot sie mir zum zweitenmal nicht an, ich bevorzugte Frau Tschissik, der ich zum Schaden der Fr. Klug Blumen geben wollte. Zu dieser Abneigung aber kam die Achtung vor meinem Doktorat, die sich durch mein kindliches Aussehn nicht abhalten ließ, ja sich eher dadurch vergrößerte. Diese Achtung war so groß, dass sie aus ihrer zwar häufigen, aber gar nicht besonders betonten Ansprache "Wissen Sie Herr Doktor" derartig klang, dass ich halb unbewußt bedauerte, sie viel zu wenig zu verdienen und mich fragte, ob ich nicht Anspruch hätte, von jedem eine genau gleiche Ansprache zu bekommen. Da ich aber von ihr als Mensch so geachtet war, war ich es als Zuhörer erst recht. Ich glänzte, wenn sie sang, ich lachte und sah sie an, die ganze Zeit während sie auf der Bühne war, ich sang die Melodien mit, später die Worte, ich dankte ihr nach einigen Vorstellungen; dafür konnte sie mich natürlich wieder gut leiden. Sprach sie mich aber aus diesem Gefühl an, war ich verlegen, hatte nichts zu sagen und machte sie verlegen, so dass sie sicher mit dem Herzen zu ihrer ersten Abneigung zurückkehrte und bei ihr blieb. Desto mehr mußte sie sich anstrengen mich als Zuhörer zu belohnen und sie tat es gern, da sie eine eitle Schauspielerin und eine gutmütige Frau ist. Besonders wenn sie dort oben im Coupeefenster schwieg, sah sie mich mit einem vor Verlegenheit und List verzücktem Mund und mit blinzelnden Augen an, die auf den vom Mund herkommenden Falten schwammen. Sie mußte glauben, von mir geliebt zu sein, wie es auch wahr gewesen ist, und gab mir mit diesen Blicken die einzige Erfüllung, die sie als erfahrene aber junge Frau, gute Ehefrau und Mutter, einem Doktor ihrer Einbildung geben konnte. Diese Blicke waren so dringend und von Wendungen, wie "es gab hier so liebe Gäste, besonders einzelne" unterstützt, dass ich mich wehrte und das waren die Augenblicke, in denen ich ihren Mann ansah. Ich hatte wenn ich beide verglich eine grundlose Verwunderung darüber, dass sie gemeinsam von uns wegfahren sollten und doch sich nur um uns bekümmerten und keinen Blick für einander hatten. Löwy fragte, ob sie gute Plätze hätten; ja wenn es so leer bleibt antwortete Fr. Klug und sah flüchtig in das Innere des Koupee, dessen warme Luft der Mann mit seinem Rauchen verderben wird. Wir sprachen von ihren Kindern denen zu Liebe sie wegfahren; sie haben 4 Kinder, darunter 3 Jungen, der älteste ist 9 Jahre alt, sie haben sie schon 18 Monate nicht gesehn. Als ein Herr in der Nähe rasch einstieg, schien der Zug wegfahren zu wollen, wir nahmen in Eile Abschied, reichten einander die Hände, ich hob den Hut und hielt ihn dann an die Brust, wir traten zurück, wie man es bei der Abfahrt von Zügen tut, womit man zeigen will, dass alles vorüber ist und man sich damit abgefunden hat. Der Zug fuhr aber noch nicht, wir traten wieder heran, ich war ganz froh darüber, sie erkundigte sich nach meinen Schwestern. Überraschend fieng der Zug langsam zu fahren an, Fr. Klug bereitete ihr Taschentuch zum Winken vor, ich möchte ihr schreiben, rief sie noch, ob ich ihre Adresse wüßte, sie war schon zu weit, als dass ich ihr mit Worten hätte antworten können, ich zeigte auf Löwy von dem ich die Adresse erfahren könnte, das ist gut, nickte sie mir und ihm rasch zu und ließ das Taschentuch flattern, ich hob den Hut, zuerst ungeschickt, dann je weiter sie war, desto freier. Später erinnerte ich mich daran, dass ich den Eindruck gehabt hatte, der Zug fahre nicht eigentlich weg, sondern fahre nur die kurze Bahnhofstrecke um uns ein Schauspiel zu geben und versinke dann. Im Halbschlaf am gleichen Abend erschien mir Frau Klug unnatürlich klein fast ohne Beine und rang die Hände mit verzerrtem Gesicht, als ob ihr ein großes Unglück geschehen wäre.
Heute nachmittag kam der Schmerz über meine Verlassenheit, so durchdringend und straff in mich, dass ich merkte, auf diese Weise verbrauche sich die Kraft, die ich durch dieses Schreiben gewinne und die ich zu diesem Ziel wahrhaftig nicht bestimmt habe
Sobald Hr. Klug in eine neue Stadt kommt merkt man wie seine und seiner Frau Schmucksachen im Versatzamt verschwinden. Gegen die Abfahrt zu löst er sie langsam wieder ein
Lieblingssatz der Frau des Philosophen Mendelssohn: Wie mies ist mir vor tout l'univers!
Einer der wichtigsten Eindrücke beim Abschied der Fr. Klug war, dass ich immer glauben mußte, als einfache bürgerliche Frau halte sie sich mit Gewalt unter dem Niveau ihrer wahren menschlichen Bestimmung und bedürfe nur eines Sprunges, eines Aufreißens der Tür, eines aufgedrehten Lichtes, um Schauspielerin zu sein und mich zu unterwerfen. Sie stand ja auch wirklich oben und ich unten wie im Teater. - Sie hat mit 16 Jahren geheiratet, ist 26 Jahre alt.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |