Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[Tagebuch, 30. Oktober 1911; Montag]
30. IX (Oktober 1911) Dieses Verlangen, das ich fast immer habe, wenn ich einmal meinen Magen gesund fühle, Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in mir zu häufen. Besonders vor Selchereien befriedige ich dieses Verlangen. Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtlos wie eine Maschine. Die Verzweiflung, welche diese Tat selbst in der Vorstellung zur sofortigen Folge hat, steigert meine Eile. Die langen Schwarten von Rippenfleisch stoße ich ungebissen in den Mund und ziehe sie dann von hinten den Magen und die Därme durchreißend wieder heraus. Schmutzige Greißlerläden esse ich vollständig leer. Fülle mich mit Häringen, Gurken und allen schlechten alten scharfen Speisen an. Bonbons werden aus ihren Blechtöpfen wie Hagel in mich geschüttet. Ich genieße dadurch nicht nur meinen gesunden Zustand, sondern auch ein Leiden, das ohne Schmerzen ist und gleich vorbeigehn kann.
Es ist meine alte Gewohnheit reine Eindrücke, ob sie schmerzlich oder freudig sind, wenn sie nur ihre höchste Reinheit erreicht haben, nicht sich wohltätig in mein ganzes Wesen verlaufen zu lassen, sondern sie durch neue unvorhergesehene, schwache Eindrücke zu trüben und zu verjagen. Es ist nicht böse Absicht, mir selbst zu schaden, sondern Schwäche im Ertragen der Reinheit jenes Eindrucks, die aber nicht eingestanden wird, sondern lieber unter innerlicher Stille durch scheinbar willkürliches Hervorrufen des neuen Eindrucks sich zu helfen sucht, statt dass sie, was allein richtig wäre, sich offenbarte und andere Kräfte zu ihrer Unterstützung riefe. So war ich z. B. Samstag abend nach dem Anhören der guten Novelle des Fräul. T., die doch Max mehr gehört, ihm zumindest in größerem Umfange mit größerem Anhang gehört, als eine eigene, dann nach dem Anhören des ausgezeichneten Stückes "Conkurrenz" von Baum, in welchem dramatische Kraft genau so ununterbrochen bei der Arbeit und in der Wirkung gesehen werden kann, wie im Erzeugnis eines lebendigen Handwerkers, nach dem Anhören dieser beiden Dichtungen war ich so niedergeworfen und mein durch mehrere Tage schon ziemlich leeres Innere ziemlich unvorbereitet mit so schwerer Trauer angefüllt, dass ich Max auf dem Nachhauseweg erklärte aus Robert u. Samuel könne nichts werden. Zu dieser Erklärung war damals weder mir noch Max gegenüber auch nicht der geringste Mut nötig. Das folgende Gespräch verwirrte mich ein wenig, da R. u. S. damals bei weitem nicht meine Hauptsorge war und ich daher auf Maxens Einwände nicht die richtigen Antworten fand. Als ich dann aber allein war und nicht nur die Störung meiner Trauer durch das Gespräch sondern auch der fast immer wirkende Trost von Maxens Gegenwart entfallen war, entwickelte sich meine Hoffnungslosigkeit so, dass sie mein Denken aufzulösen begann (hier kommt, während ich eine Nachtmahlpause mache Löwy in die Wohnung und stört mich und freut mich von 7 Uhr bis 10) Statt jedoch zu Hause abzuwarten, was weiter geschehe, las ich unordentlich 2 Hefte der Aktion ein wenig in den Mißgeschickten, endlich auch in meinen Pariser Notizen und legte mich ins Bett eigentlich zufriedener als früher aber verstockt. Ähnlich war es vor einigen Tagen als ich von einem Spaziergang in heller Nachahmung Löwys zurückkam mit der äußerlichen meinem Ziel zugewendeten Kraft seiner Begeisterung. Auch da las ich und redete zuhause vieles durcheinander und verfiel.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |