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[Tagebuch, 27. Oktober 1911; Freitag]
27. X 11 Löwys Erzählungen und Tagebücher:
wie ihn Notre Dame erschreckt, wie ihn der Tiger im Jardin de Plantes ergreift, als eine Darstellung des Verzweifelten und Hoffenden, der Verzweiflung und Hoffnung im Fraße sättigt, wie ihn sein frommer Vater in der Vorstellung befragt, ob er nun Samstag spazieren könne, ob er jetzt moderne Bücher zu lesen Zeit habe, ob er an den Fasttagen essen dürfe, während er doch Samstag arbeiten muß, überhaupt keine Zeit hat und mehr fastet als je eine Religion vorgeschrieben hat. Wenn er an seinem Schwarzbrot kauend durch die Gassen spaziert, sieht es von der Ferne aus, als esse er Chokolade. Die Arbeit in der Mützenfabrik und sein Freund, der Socialist, der jeden für einen Bourgeois hält, der nicht genau so arbeitet wie er, z. B. Löwy mit seinen feinen Händen, der sich Sonntags langweilt, der das Lesen als etwas Üppiges verachtet, selbst nicht lesen kann und Löwy mit Ironie bittet ihm einen Brief vorzulesen, den er bekommen hat.
Das jüdische Reinigungswasser, das in Rußland jede jüdische Gemeinde hat, das ich mir als eine Kabine denke mit einem Wasserbecken von genau bestimmten Umrissen, mit vom Rabbiner angeordneten und überwachten Einrichtungen, das nur den irdischen Schmutz der Seele abzuwaschen hat, dessen äußerliche Beschaffenheit daher gleichgültig ist, das ein Symbol daher schmutzig und stinkend sein kann und auch ist aber seinen Zweck doch erfüllt. Die Frau kommt her um sich von der Periode zu reinigen, der Thoraschreiber um sich vor dem Aufschreiben des letzten Satzes eines Toraabschnittes von allen sündigen Gedanken zu reinigen.
Sitte gleich nach dem Erwachen, die Finger dreimal in Wasser zu tauchen, da die bösen Geister sich in der Nacht auf dem zweiten und dritten Fingerglied niederlassen. Rationalistische Erklärung: Es soll verhindert werden, dass die Finger gleich ins Gesicht fahren, da sie doch im Schlaf und Traum unbeherrscht alle möglichen Körperstellen die Achselhöhlen, den Popo, die Geschlechtsteile berührt haben können.
Die Garderobe hinter ihrer Bühne ist so schmal, dass wenn einer zufällig hinter dem Türvorhang der Scene vor dem Spiegel steht und ein zweiter an ihm vorbeikommen will, er jenen Vorhang heben und sich wider Willen einen Augenblick lang dem Publikum zeigen muß.
Aberglaube: Trinkt man aus einem unvollkommenen Glas, bekommen die bösen Geister Eingang in den Menschen.
Wie wund mir die Schauspieler nach der Vorstellung vorkamen, wie ich mich fürchtete, sie mit einem Wort zu betupfen. Wie ich lieber nach einem flüchtigen Händedruck rasch weggieng, als wäre ich böse und unzufrieden weil die Wahrheit meines Eindrucks auszusprechen so unmöglich war. Alle schienen mir falsch außer Max der ruhig einiges Inhaltslose sagte. Falsch aber war der, welcher sich nach einem unverschämten Detail erkundigte, falsch der, welcher eine scherzhafte Antwort auf eine Bemerkung des Schauspielers gab, falsch der Ironische, falsch der welcher seinen mannigfaltigen Eindruck aufzulösen begann, alles Gesindel, das richtiger Weise in die Tiefe des Zuschauerraumes gedrückt, jetzt spät in der Nacht aufstand und seinen Wert wieder bemerkte. (Sehr weit vom Richtigen)
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |