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[Tagebuch, 26. Oktober 1911; Donnerstag]

26. XI (Oktober) 1911 Donnerstag.

Gestern hat Löwy den ganzen Nachmittag "Gott Mensch u. Teufel" von Gordon und dann aus seinen eigenen Tagebüchern von Paris vorgelesen. Vorgestern war ich bei der Aufführung des wilden Menschen von Gordon. - Gordon ist deshalb besser als Lateiner, Scharkansky, Feimann u. s. w. weil er mehr Details, mehr Ordnung und mehr Folgerichtigkeit in dieser Ordnung hat, dafür ist hier nicht mehr ganz das unmittelbare, förmlich ein für alle mal improvisierte Judentum der andern Stücke, der Lärm dieses Judentums klingt dumpfer und daher wiederum weniger detailliert. Es werden allerdings dem Publikum Koncessionen gemacht und manchmal glaubt man sich recken zu müssen um über die Köpfe des Newyorcker jüdischen Teaterpublikums weg das Stück zu sehn, (die Gestalt des wilden Menschen, die ganze Geschichte der Frau Seldes) schlimmer aber ist dass auch irgendeiner geahnten Kunst greifbare Koncessionen gemacht werden, dass z. B. im wilden Menschen die Handlung einen ganzen Akt flattert infolge von Bedenken, dass der wilde Mensch menschlich undeutliche, litterarisch aber so grobe Reden hält dass man lieber die Augen schließt, ebenso ist das ältere Mädchen in G. M. und Teufel. Sehr muthig ist teilweise die Handlung des "w. M. ". Eine junge Witwe heirathet einen alten Mann, der vier Kinder hat, und bringt gleich ihren Liebhaber den Wladimir Worobeitschik mit in die Ehe. Nun ruinieren die zwei die ganze Familie, Schmut Leiblich (Pipes) muß alles Geld hergeben und wird krank, der älteste Sohn Simon (Klug) ein Student verläßt das Haus, Alexander wird ein Spieler und Säufer, Lise (Tschisik) wird Dirne und Lemech (Löwy), der Idiot wird gegenüber der Frau Selde von Haß, weil sie an Stelle seiner Mutter tritt, und von Liebe, weil sie die erste ihm nahe junge Frau ist, in einen idiotischen Wahnsinn gebracht. Die so weit getriebene Handlung löst sich mit der Ermordung der Selde durch Lemech. Alle andern bleiben dem Zuschauer in unvollendeter hilfloser Erinnerung. Die Erfindung dieser Frau und ihres Liebhabers, eine Erfindung die niemanden um seine Meinung fragt hat mir unklares verschiedenartiges Selbstvertrauen gegeben.

Der diskrete Eindruck des Teaterzettels. Man erfährt nicht nur die Namen, sondern etwas mehr, aber doch nur so viel, als der Öffentlichkeit und selbst der wohlwollendsten und kühlsten über eine ihrem Urteil ausgesetzte Familie bekannt werden muß. Schmut Leiblich ist "ein reicher Kaufmann" es wird aber nicht gesagt, dass er alt und kränklich, ein lächerlicher Weiberfreund ein schlechter Vater und ein pietätloser Witwer ist, der am Jahrzeittag seiner Frau heirathet. Und doch wären alle diese Bezeichnungen richtiger als jene des Teaterzettels, denn am Ende des Stückes ist er nicht mehr reich, weil ihn die Selde ausgeraubt hat, er ist auch kaum ein Kaufmann mehr, da er sein Geschäft vernachlässigt hat. Simon ist auf dem Teaterzettel "ein Student" also etwas sehr vages, was unseres Wissens viele Söhne unserer entferntesten Bekannten sind. Alexander, dieser charakterlose junge Mann ist nur "Alexander", von "Lise" dem häuslichen Mädchen weiß man auch nur dass sie "Lise" ist. Lemech ist leider "ein Idiot" denn das ist etwas, was sich nicht verschweigen läßt. Wladimir Worobejtschik ist nur "Seldes Geliebter", aber nicht der Verderber einer Familie, nicht Säufer, Spieler, Wüstling, Nichtstuer, Parasit. Mit der Bezeichnung "Seldes Geliebter" ist zwar viel verraten, mit Rücksicht auf sein Benehmen aber ist es das wenigste, was man sagen kann. Nun ist überdies der Ort der Handlung Rußland, die kaum gesammelten Personen sind über ein ungeheures Gebiet verstreut oder auf einem kleinen nicht verratenen Punkt dieses Gebietes gesammelt, kurz das Stück ist unmöglich geworden, der Zuschauer wird nichts zu sehn bekommen / Trotzdem beginnt das Stück, die offenbar großen Kräfte des Verfassers arbeiten, es kommen Dinge zutage, die den Personen des Teaterzettels nicht zuzutrauen sind, die ihnen aber mit der größten Sicherheit zukommen und wenn man nur dem Peitschen, Wegreißen, Schlagen, Achselnbeklopfen, Ohnmächtigwerden, Halsabschneiden, Hinken, Tanzen in russischen Stulpenstiefeln, Tanzen mit gehobenen Frauenröcken Wälzen auf dem Kanapee glauben wollte weil dies doch Dinge sind, wo keine Widerrede hilft. Es ist jedoch nicht einmal der erinnerungsweise erlebte Höhepunkt der Zuschaueraufregung nötig um zu erkennen, dass der diskrete Eindruck des Teaterzettels ein falscher Eindruck ist, der sich erst nach der Aufführung bilden kann, jetzt aber schon unrichtig, ja unmöglich ist, der nur in einem müde abseitsstehenden entstehen kann, da für den ehrlichen Urteilenden nach der Vorstellung zwischen Teaterzettel und Vorstellung nichts Erlaubtes mehr zu sehen ist.

Vom Strich angefangen mit Verzweigung geschrieben, weil heute besonders lärmend Karten gespielt werden, ich beim allgemeinen Tische sitzen muß, die O. mit vollem Mund lacht, aufsteht, sich setzt, über den Tisch hingreift, zu mir spricht und ich zur Vollendung des Unglücks so schlecht schreibe und an die guten, mit ununtergebrochenem Gefühl geschriebenen Pariser Erinnerungen Löwys denken muß, die aus selbständigem Feuer kommen, während ich wenigstens jetzt sicher hauptsächlich deshalb, weil ich so wenig Zeit habe, fast ganz unter Maxens Einfluß stehe, was mir manchmal zum Überfluß auch noch die Freude an seinen Arbeiten verdirbt. Weil es mich tröstet, schreibe ich mir eine autobiographische Bemerkung von Shaw her, trotzdem sie eigentlich das Gegenteil von Trost enthält: Als Knabe war er Lehrling im Contor eines Grund- u. Bodenagenten in Dublin. Er gab diesen Posten bald auf und reiste nach London und wurde Schriftsteller. In den ersten 9 Jahren von 1876 - 1885 verdiente er im ganzen 140 K. "Aber trotzdem ich ein starker junger Mensch war und meine Familie sich in üblen Umständen befand, warf ich mich nicht in den Kampf des Lebens; ich warf meine Mutter hinein und ließ mich von ihr erhalten. Ich war meinem alten Vater keine Stütze, im Gegenteil, ich hieng mich an seine Rockschöße. " Schließlich tröstet es mich wenig. Die Jahre, die er frei in London verbracht hat, sind für mich schon vorüber, das mögliche Glück geht immer mehr ins unmögliche über, ich führe ein schreckliches ersatzweises Leben und bin feig und elend genug, Shaw nur soweit zu folgen, dass ich die Stelle meinen Eltern vorgelesen habe. Wie mir dieses mögliche Leben mit Stahlfarben, mit gespannten Stahlstangen und luftigem Dunkel dazwischen vor den offenen Augen blitzt!

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at