Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Tagebuch, 23. Oktober 1911; Montag]

23. (Oktober 1911) Die Schauspieler überzeugen mich durch ihre Gegenwart immer wieder zu meinem Schrecken, dass das meiste was ich bisher über sie aufgeschrieben habe, falsch ist. Es ist falsch, weil ich mit gleichbleibender Liebe (erst jetzt da ich es aufschreibe, wird auch dieses falsch) aber wechselnder Kraft über sie schreibe und diese wechselnde Kraft nicht laut und richtig an die wirklichen Schauspieler schlägt sondern dumpf sich an dieser Liebe verliert, die mit der Kraft niemals zufrieden sein wird und deshalb dadurch, dass sie sie aufhält, die Schauspieler zu schützen meint.

Streit zwischen Tschissik und Löwy. T.: Edelstatt ist der größte jüdische Schreiber. Er ist erhaben. Rosenfeld ist natürlich auch ein großer Schreiber aber nicht der erste. Löwy: Tsch. ist Socialist und weil Edelstatt social. Gedichte macht, er ist Redakteur einer soc. jüdischen Zeitung in London, deshalb hält ihn Tsch. für den größten. Aber wer ist Edelstatt, seine Partei kennt ihn, sonst niemand, aber Rosenfeld kennt die Welt. - Tsch.: Auf die Anerkennung kommt es nicht an. Alles von Edelstatt ist erhaben. - L.: Ich kenne ihn ja auch genau. Der Selbstmörder z. B. ist sehr gut. - Tsch.: Was hilft der Streit? Einigen werden wir uns nicht. Ich werde meine Meinung bis morgen sagen und Du auch. - L.: Ich bis übermorgen.

Goldfaden, verheirathet, Verschwender, auch in großer Noth. An 100 Stücke. Gestohlene liturg. Melodien volkstümlich gemacht. Das ganze Volk singt sie. Der Schneider bei seiner Arbeit (wird nachgemacht) das Dienstmädchen

U. S.W.

Bei so kleinem Raum fürs Anziehn muß man wie Tschissik sagt in Streit kommen. Man kommt aufgeregt von der Scene, jeder hält sich für den größten Schauspieler, tritt da einer dem andern z. B. auf den Fuß, was nicht zu vermeiden ist, so ist nicht nur ein Streit fertig, sondern ein großer Kampf. Ja in Warschau, da waren 75 kleine Einzelgarderoben, jede beleuchtet

Um 6 Uhr traf ich die Schauspieler in ihrem Kaffeehaus um zwei Tische herum, nach den 2 feindlichen Gruppen geordnet, sitzen. Auf dem Tisch der Tsch. Gruppe war ein Buch von Perez. L. hatte es eben geschlossen und stand auf um mit mir wegzugehn.

Bis 20 Jahren war L. ein bocher, der studierte und seines wohlhabenden Vaters GeldEs war da eine Gesellschaft gleichaltriger, junger Leute, die gerade am Samstag in einem abgesperrten Lokal zusammenkamen und im Kaftan rauchten und sonst gegen die Feiertagsgebote sündigten.

"Der große Adler" der berühmteste jiddische Schauspieler aus New York, der Millionär ist, für den Gordon "den wilden Menschen" geschrieben hat und den L. in Karlsbad gebeten hat, ja nicht zur Vorstellung zu kommen, der er vor ihm auf ihrer schlecht ausgestatteten Bühne zu spielen nicht den Muth hätte. - Nur Dekorationen, nicht diese elende Bühne, auf der man sich nicht bewegen kann. Wie werden wir den wilden Menschen spielen! Dort braucht man ein Divan. Im Krystallspalast Leipzig war es großartig. Fenster, die man aufmachen konnte, die Sonne schien herein, man brauchte im Stück einen Thron, gut da war ein Thron, ich gieng durch die Menge zu ihm hin und war wirklich ein König. Da ist viel leichter zu spielen. Hier beirrt einen alles.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at