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[Tagebuch, 9. Oktober 1911; Montag]
9 X 11
Sollte ich das 40te Lebensjahr erreichen, so werde ich wahrscheinlich ein altes Mädchen mit vorstehenden, etwas von der Oberlippe entblößten Oberzähnen heiraten. Die obern Mittelzähne des Frl. Kaufmann, die in Paris u. London war, sind gegeneinander verschoben, wie Beine, die man in den Knien flüchtig kreuzt. Vierzig Jahre alt werde ich aber kaum werden, dagegen spricht z. B. die Spannung, die sich mir über die linke Schädelhälfte öfters legt, die sich wie ein innerer Aussatz anfühlt und die auf mich, wenn ich von den Unannehmlichkeiten absehe und nur betrachten will, den gleichen Eindruck macht wie der Anblick der Schädelquerschnitte in den Schullehrbüchern oder wie eine fast schmerzlose Sektion bei lebendem Leibe, wo das Messer ein wenig kühlend, vorsichtig, oft stehenbleibend und zurückkehrend, manchmal ruhig liegend blätterdünne Hüllen ganz nahe an arbeitenden Gehirnpartien noch weiter teilt.
Traum von heute nacht, den ich selbst früh noch nicht für schön hielt abgesehen von einer kleinen aus zwei Gegenbemerkungen bestehenden komischen Scene, die jenes ungeheuerliche Traumwohlgefallen zur Folge hatte, die ich aber vergessen habe. Ich gieng - ob gleich am Anfang Max dabei war weiß ich nicht - durch eine lange Häuserreihe in der Höhe des ersten bis 2ten Stockwerkes, so wie man in Durchgangszügen von einem Waggon zum andern geht. Ich gieng sehr rasch vielleicht auch weil manchmal das Haus so gebrechlich war, dass man schon deshalb eilte. Die Türen zwischen den Häusern fielen mir gar nicht auf, es war eben eine riesige Zimmerflucht und doch war nicht nur die Verschiedenheit der einzelnen Wohnungen sondern auch der Häuser zu erkennen. Es waren vielleicht lauter Zimmer mit Betten, durch die ich kam. Es ist mir ein typisches Bett in der Erinnerung geblieben, das seitwärts links von mir an der dunklen oder schmutzige vielleicht dachbodenartig schiefen Wand steht, einen niedrigen Aufbau von Bettwäsche hat und dessen Decke, eigentlich nur ein grobes Leintuch, zusammengetreten von den Füßen dessen, der hier geschlafen hat in einem Zipfel hinunterhängt. Ich fühlte mich beschämt, zu einer Zeit, wo noch viele Leute in den Betten lagen, durch ihre Zimmer zu gehn, gieng daher auf den Fußspitzen mit großen Schritten, durch die ich irgendwie zu zeigen hoffte, dass ich nur gezwungen durchgehe, alles möglichst schone und schwach auftrete, dass mein Durchgehn förmlich gar nicht gelte. Deshalb drehte ich auch im gleichen Zimmer niemals den Kopf und sah nur entweder das was rechts zur Gasse zu, oder was links zur Rückwand zu lag. Die Reihe von Wohnungen war öfters von Bordellen unterbrochen, durch die ich aber, trotzdem ich scheinbar ihretwegen diesen Weg' machte, besonders rasch gieng, so dass ich mir nichts als ihr Dasein gemerkt habe. Das letzte Zimmer aller Wohnungen war aber wieder ein Bordell und hier blieb ich. Die der Tür durch die ich eintrat gegenüberliegende Wand, also die letzte Wand der Häuserreihe war entweder aus Glas oder überhaupt durchbrochen und ich wäre beim Weitergehn hinuntergefallen. Es ist sogar wahrscheinlicher, dass sie durchbrochen war, denn es lagen gegen den Rand des Fußbodens die Dirnen, klar waren mir zwei, auf der Erde, der einen hieng der Kopf ein wenig über die Kante hinaus in die freie Luft hinunter. Links war eine feste Wand, dagegen war die Wand rechts nicht vollkommen, man sah in den Hof hinunter wenn auch nicht bis auf seinen Grund und eine baufällige graue Treppe führte in mehreren Abteilungen hinunter. Nach dem Licht im Zimmer zu schließen, war der Plafond so wie in den andern Zimmern. Ich hatte hauptsächlich mit der Dirne zu tun, deren Kopfherabhieng, Max mit der links neben ihr liegenden. Ich betastete ihre Beine und blieb dann dabei, ihre Oberschenkel regelmäßig zu drücken. Mein Vergnügen dabei war so groß, dass ich mich wunderte, dass man für diese Unterhaltung, welche doch gerade die schönste war, noch nichts zahlen müsse. Ich war überzeugt dass ich und ich allein die Welt betrüge. Dann erhob die Dirne bei ruhenden Beinen ihren Oberleib und wandte mir den Rücken zu, der zu meinem Schrecken mit großen siegellackroten Kreisen mit erblassenden Rändern und dazwischen versprengten roten Spritzern bedeckt war. Jetzt bemerkte ich, dass ihr ganzer Körper davon voll war, dass ich meinen Daumen auf ihren Schenkeln in solchen Flecken hielt und dass auch auf meinen Fingern diese roten Partikelchen wie von einem zerschlagenen Siegel lagen. Ich trat zurück unter eine Anzahl Männer die an der Wand nahe der Mündung der Treppe, auf der ein kleiner Verkehr stattfand, zu warten schienen. Sie warteten so, wie Männer auf dem Land am Sonntagmorgen auf dem Markt zusammenstehen. Deshalb war auch Sonntag. Hier spielte sich auch die komische Szene ab, indem ein Mann, vor dem ich und Max Grund hatten sich zu fürchten, weggieng, dann die Treppe heraufkam, zu mir trat und während ich und Max mit Angst irgend eine schreckliche Drohung von ihm erwarteten, eine lächerlich einfältige Frage an mich stellte. Dann stand ich dort und sah besorgt zu wie Max ohne Angst in diesem Lokal irgendwo links auf der Erde saß und eine dicke Kartoffelsuppe aß, aus der die Kartoffeln als große Kugeln heraussahen, hauptsächlich eine. Er drückte sie mit dem Löffel, vielleicht mit 2 Löffeln in die Suppe hinein oder wälzte sie bloß.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |