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[Tagebuch, 29. September 1911; Freitag]
29. IX 11 Goethes Tagebücher: Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn er z. B. in Goethes Tagebüchern liest "11. I 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt" so scheint es ihm, er selbst hätte noch niemals an einem Tag so wenig gemacht. - Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große Mühe systematisch sehn. Augenblicksbeobachtungen gibt es daher wenige, meist nur in Innenräumen wo bestimmte Menschen gleich grenzenlos einem vor den Augen aufbrausen z. B. österreichische Officiere in Heidelberg, dagegen ist die Stelle von den Männern in Wiesenheim der Landschaft näher " sie tragen blaue Röcke und mit gewirkten Blumen verzierte weiße Westen" (nach dem Gedächtnis citiert). Viel über den Rheinfall bei Schaffhausen niedergeschrieben mitten drin in größeren Buchstaben "Erregte Ideen"
Cabaret Lucerna. Lucie König stellt Photographien mit alten Frisuren aus. Abgeschabtes Gesicht. Manchmal gelingt ihr etwas mit der von unten her gehobenen Nase, mit dem emporgehaltenem Arm und einer Wendung aller Finger. Waschlappiges Gesicht. - Longhen (Maler Pittermann) mimische Scherze. Eine Leistung, die offenbar ohne Lust ist, und doch so lustlos nicht gedacht werden kann, da sie doch dann nicht jeden Abend durchgeführt werden könnte, besonders da sie selbst bei ihrer Erfindung so lustlos war, dass sich kein genügendes Schema ergeben hat, welches das genug häufige Eintreten des ganzen Menschen ersparen würde. Hübscher Clownsprung über einen Sessel weg ins Leere der Seitenkoulisse. Das Ganze erinnert an eine Vorführung in einer Privatgesellschaft wo man einer mühseligen unbedeutenden Leistung aus dem geselligen Bedürfnis heraus besonders applaudiert, um mit Rücksicht auf das Minus der Leistung durch das Plus des Beifalls etwas glattes Abgerundetes zu erhalten. - Sänger Vasata. So schlecht, dass man sich in seinem Anblick verliert. Aber weil er ein starker Mensch ist, hält er doch mit einer sicher nur mir zum Bewußtsein kommenden tierischen Kraft die Aufmerksamkeit des Publikums halbwegs gesammelt. - Grünbaum wirkt mit der angeblich nur scheinbaren Trostlosigkeit seiner Existenz. - Odys Tänzerin. Steife Hüften. Richtige Fleischlosigkeit. Rote Knie passen mir zum Tanz "Frühlingsstimmung".
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |