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[Reisetagebuch Lugano-Paris-Erlenbach, 4. September 1911; Montag]
4 September (1911) Cholerainformationen: Verkehrsbureau, Corriere della Sera, Norddeutscher Lloyd, Berliner Tageblatt, Stubenmädchen bringt Informationen eines Berliner Arztes, je nach der Gruppierung und dem eigenen körperlichen Zustand ändert sich der durchschnittliche Charakter dieser Nachrichten, bei der Abfahrt von Lugano nach Porte Ceresio 1 . 05 ist er ziemlich günstig. - Flüchtige Begeisterung für Paris, im Wind der den vor uns gehaltenen Excelsior vom 3 Sept. 11 bläht, mit dem wir zu einer Bank laufen. - Auf der Brücke über den Luganosee sind noch einige Plätze für Reklametafeln zu vermieten. -
ad Freitag die 3 Kerle treiben uns von der Schiffspitze weil vielleicht der Steuermann freien Ausblick auf das Licht vorn haben muß, schieben dann aber eine Bank heran und setzen sich selbst - Ich hätte gern gesungen.
Freitag (1. September 1911)
Unter den Augen des Italieners, der uns zur Reise nach Turin (Ausstellung) räth und dem wir zunicken, durch Handschlag bekräftigter gemeinsamer Entschluß um keinen Preis nach Turin zu fahren - Lob der reducierten Karten. Radfahrer macht Rundfahrten auf der Seeterasse eines Hauses in P. Ceresio - Peitsche die statt des Riemens nur ein kleines Schwänzchen aus Roßhaar hat - Fahrender Radfahrer hält ein neben ihm trabendes Pferd an einem Strick
Mailand: Führer in einem Geschäft vergessen. Zurückgegangen u. gestohlen - im Hofe der Mercanti Apfelstrudel gegessen - Gesundheitskuchen - Theatro Fossati - Alle Hüte und Fächer in Bewegung - Lachen eines Kindes in der Höhe - Programm verklebt durch einen Reklamezettel - eine ältere Dame im Männerorchester - Poltrone - Ingresso - Orchester in einer Ebene mit dem Zuschauerraum - Reklame von Lancia aufgenommen in die Plafonddekoration eines Salons - alle Fenster der Rückwand offen - großer starker Schauspieler mit zart getupften Nasenlöchern, deren Schwarz auffallend bestehen bleibt, wenn auch die Ränder des zurückgebogenen Gesichtes im Licht verschwimmen - Mädchen mit hohem dünnen Hals läuft mit kurzen Schritten und steifen Ellenbogen aus dem Zimmer und läßt die zum hohen Halse passenden hohen Stöckel ahnen. Überschätzung des Lachens, denn vom nichtverstehenden Ernstsein zum Lachen ist es weiter als vom eingeweihten Ernstsein - Bedeutung jedes Möbelstückes - 5 Türen in beiden Stücken für jeden Fall - Nase und Mund eines Mädchens niedergeleuchtet von den gemalten Augen. - Herr in der Loge öffnet beim Lachen den Mund bis zu einem rückwärtigen Goldzahn, der dann den Mund ein Weilchen so offen hält. Auf andere Weise nicht zu erreichende Einheit zwischen Bühne und Zuschauerraum, wie es jene ist, die sich für und gegen den Zuschauer bildet, der die Sprache nicht versteht
- Junge Italienerin mit sonst jüdischem Gesicht das sich im Profil ins Unjüdische verschiebt - Wie sie aufstand die Hände zur Brüstung vorstreckte und nur der schmale Körper zu sehen war ohne die Verbreiterung der Arme und Schultern, wie sie zu den Fensterpfosten die Arme ausbreitete, wie sie sich mit beiden Händen an einem Pfosten festhielt im Zugswind wie an einem Baum. - Sie las eine Detektivbrochure, um die sie ihr kleiner Bruder lange umsonst gebeten hat. - Ihr Vater nebenan mit scharf gekrümmter Nase während ihre an der gleichen Stelle eben sanft darum jüdischer gebogen war - sie sah mich öfters an, aus Neugierde ob ich mit meinem lästigen Hinsehn nicht doch endlich aufhören möchte - ihr Kleid aus Rohseide - dicke große duftende Dame neben mir die ihr Parfum mit dem Fächer in der Luft verteilt - ihr vieles Fleisch hält es im flachen Fuß nicht aus und steigt gleich hinter den Zehen in die Höhe - ich fühle mich neben ihr eintrocknen - im Gepäckraum hat der Blechschirm der Gasflamme die Form eines flachen Mädchenhutes - unterhaltend verschiedene Gitter in den Häusern - unter den Bogen der Einfahrt zur Skala haben wir sie gesucht und waren gegenüber ihrer einfachen abgekratzten Fassade über diesen Irrtum auch dann nicht erstaunt als wir auf den Platz hinaustraten - wachsende Billigung des sich ins Innere der Stadt hin steigernden Verkehrs bis man auf dem Domplatz nichts sieht als langsam das Denkmal Vittorio Emanuels umfahrende Elektrische, sich abwendet und ein Hotel sucht - Freude über die Verbindung zwischen den 2 Zimmern, die durch eine Doppeltür hergestellt ist. Jeder kann eine Tür öffnen. Max hält dies auch für Ehepaare passend. - Zuerst einen Gedanken niederschreiben, dann vorlesen, nicht vorlesend schreiben, da dann nur der im Innern vollzogene Anlauf gelingt, während das weiter noch zu schreibende sich losmacht. - Gespräch über Scheintod und Herzstich an einem Kaffeehaustischchen auf dem Domplatz. Mahler hat auch den Herzstich verlangt. Die beabsichtigte Zeit des Aufenthaltes in Mailand schrumpft unter diesem Gespräch trotz eines kleinen Widerstandes von meiner Seite sehr zusammen. - Der Dom belästigt mit seinen vielen Spitzen. - Entwicklung des Entschlusses nach Paris zu fahren: der Augenblick in Lugano über dem Excelsior, Reise nach Mailand infolge des nicht ganz freiwilligen Einkaufes der Karten nach Mailand über Porte Ceresio, von Mailand nach Paris aus Angst vor der Cholera und aus dem Verlangen nach Belohnung für diese Angst. Überdies Berechnung der financiellen und zeitlichen Vorteile dieser Reise
I Rimini - Ostende - Genua Nervi (Prag)
II Oberital. Seen, Mailand (Prag) Genua (Schwanken zwischen Locarno u. Lugano)
III Maggiore auslassen, Lugano Mailand, Städtereise bis Bologna
IV in (Lugano) Lugano - Paris
V Lugano - Mailand (mehrere Tage) - Maggiore
VI in Mailand: direkt nach Paris (ev. Fontainebleau)
VII ausgestiegen in Stresa damit bekommt die Reise zum erstenmal einen guten Rückblick und Vorblick, sie ist
ausgewachsen und wird deshalb um die Taille gefaßt - so klein wie in der Galerie habe ich Menschen niemals gesehen - Max behauptet, die Galerie sei nur so hoch, als man auch im Freien Häuser sieht, ich leugne es mit einem vergessenen Einwand, wie ich mich überhaupt immer für diese Gallerie einsetzen werde. - Sie hat fast keinen überflüssigen Schmuck, hält den Blick nicht auf, scheint infolgedessen sowie auch infolge ihrer Höhe kurz, erträgt aber auch das - sie bildet ein Kreuz, durch das die Luft frei weht - vom Dach des Domes aus scheinen die Menschen gegenüber der Gallerie größer geworden - ich kann mich mit der Gallerie vollständig darüber trösten, dass ich die altrömischen Überbleibsel nicht gesehen habe - Transparente Überschrift in der Tiefe des Flurs über dem Bordell: Al vero Eden. Starker Verkehr mit der Gasse meist durch Einzelne. Hin- und Her in den schmalen Gassen der Umgebung. Sie sind rein, haben trotz ihrer Schmalheit mehrere Bürgersteige, einmal sehn wir aus einer schmalen Gasse in einer andern rechtwinklig einbiegenden im letzten Stockwerk eines Hauses eine Frau am Fenstergitter lehnen - Ich war damals zu allem leicht entschlossen und fühlte wie immer in solcher Laune meinen Körper schwerer geworden. - Die Mädchen sprachen ihr Französisch wie Jungfrauen. - Mailänder Bier riecht wie Bier, schmeckt wie Wein. - Max bedauert Geschriebenes nur während des Schreibens, später niemals
Max führt aus Angst eine Katze im Lesezimmer spazieren.
Das Mädchen, dessen Bauch im Sitzen über und zwischen den auseinander gereckten Beinen unter dem durchscheinenden Kleid zweifellos unförmlich war, während er als sie aufstand sich zerzog wie eine Teaterdekoration hinter Schleiern und einen schließlich erträglichen Mädchenleib bildete. Die Französin, deren Süßigkeit für den abschließenden Blick sich vor allem in den runden und doch detaillierten, plauderhaften und anhänglichen Knien zeigte - Eine befehlshaberische Denkmalsfigur, die das eben verdiente Geld in den Strumpf schiebt. - Der Greis, der auf einem Knie die beiden Hände übereinander legt. - Die bei der Tür, deren böses Gesicht spanisch, deren Einlegen der Hände in die Hüften spanisch ist und die sich in einem miederartigen Kleid aus Preservativseide streckt. Die Haare wandern ihr dicht vom Nabel zur Scham. - Bei uns entfremden die deutschen Mädchen in den Bordellen ihre Gäste auf ein Weilchen ihrer Nation, hier tun es die französischen. Vielleicht ungenügende Kenntnis dieser heimischen Verhältnisse. - Bestrafte Leidenschaft für Eisgetränke: 1 Grenadine, 2 Aranciata im Teater, 1 im Bar am Corso Emanuele, 1 sorbet im Kaffeehaus in der Gallerie, 1 französisches Mineralwasser Thierry, das mit einemmal die Wirkungen alles frühernenthüllt, trauriges Schlafengehn im Anblick eines stark italienischen weitgreifenden Prospektes vom Bett aus, der durch ein etwas vorspringendes Fenster einer Seitenfront erzeugt wird, trostloses Erwachen mit dem trockenen Druck gegen alle Rachenwände. - Gar nicht beamtenmäßige Eleganz der Wachleute, wenn sie die ausgezogenen Zwirnhandschuhe in der einen Hand, das Stöckchen in der andern einen Dienstweg machen. - Dirnen gelaufen auf dem Domplatz und in der Gallerie - Entschuldigung bei Max wegen des Bordells am Morgen
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |