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[Stempel: Erlenbach/Zürich, 18. 9. 11]

[An.:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkonceptspraktikant Prag k.k. Postdirektion Österreich

Abs. Dr. Franz Kafka Prag Niklasstr. 36

[Briefkopf: Sanatorium Erlenbach, Fellenbergs Naturheilanstalt, Schweiz]


[Erlenbach, den] 17. IX [191] 1


Mein lieber Max,

wenn Du von mir verlangt hast, ich soll hier die Geschichte schreiben, so hast Du nur Deine Unkenntnis der Einrichtungen eines Sanatoriums gezeigt, während ich, der ich zu schreiben versprochen habe, die mir doch gut bekannte Lebensweise in den Sanatorien irgendwie vergessen haben muß. Denn der Tag ist hier ausgefüllt von den Anwendungen, wie das Baden, Massiertwerden, Turnen u.s.w. heißt und von der Vorbereitungsruhe vor diesen Anwendungen und von der Erholungsruhe nach ihnen. Die Mahlzeiten allerdings nehmen nicht viel Zeit weg, da sie als Apfelmus, Kartofelpurée, flüssiges Gemüse, Obstsäfte u.s.w. sehr rasch, wenn man will ganz unbemerkt, wenn man aber will auch sehr genußreich hinunterrinnen, nur ein wenig aufgehalten von Schrotbrot, Omeletten, Puddings und vor allem Nüssen. Dafür aber werden die Abende, besonders da es jetzt sehr regnerisch war, gesellig verbracht, sei es dass man sich einmal mit Granunophonvorträgen unterhält, wobei wie im Züricher Münster Damen und Herren getrennt sitzen und bei lärmenderen Liedern z. B. beim Sozialistenmarsch das Hörrohr mehr den Herren zugewendet wird, während bei zarten oder besonders genau zu hörenden Stücken die Herren auf die Damenseite gehn, um nach Beendigung wieder zurückzukehren oder in einzelnen Fällen dortzubleiben für immer, sei es (willst Du den Satz grammatisch überprüfen, mußt Du das Blatt umdrehn), dass ein Berliner Trompetenbläser zu meinem großen Vergnügen bläst oder irgendein unsicher stehender Herr aus den Bergen ein Dialektstück nicht von Rosegger, sondern von Achleitner vorliest und schließlich ein freundlicher Mensch, der alles hergiebt, einen selbstverfaßten humoristischen Roman in Versen vorträgt, wobei mir nach alter Gewohnheit Tränen in die Augen kommen. Nun meinst Du, bei diesen Unterhaltungen müßte ich nicht dabei sein. Das ist aber nicht wahr. Denn erstens muß man sich doch irgendwie für den teilweise wirklich guten Erfolg der Kur bedanken (denk Dir, ich habe noch abend in Paris das Mittel genommen und die Folgen sind heute am dritten Tag schon beseitigt) und zweitens sind hier schon so wenig Gäste, dass man wenigstens absichtlich sich nicht verlieren kann. Endlich sind aber auch die Beleuchtungsverhältnisse ziemlich schlechte, ich wüßte gar nicht, wo ich allein schreiben sollte, selbst bei diesem Brief geht etwas Augenlicht drauf.

    Natürlich, wenn ich den Zwang zum Schreiben in mir fühlen würde, wie für längere Dauer einmal in langer Zeit, wie für einen Augenblick in Stresa, wo ich mich ganz als eine Faust fühlte, in deren Innern die Nägel in das Fleisch gehn - anders kann ich es nicht sagen -, dann allerdings bestünde keines jener Hindernisse. Ich müßte mir einfach die Anwendungen nicht machen lassen, könnte mich gleich nach Tisch empfehlen, als ein ganz besonderer Sonderling, dem man nachschaut, in mein Zimmer hinaufgehn, den Sessel auf den Tisch stellen und im Licht der hoch an der Decke angebrachten schwachen Glühlampe schreiben.

    Wenn ich jetzt daran denke, dass man nach Deiner Meinung - nach Deinem Beispiel will ich nicht sagen - auch nach bloß äußerem Belieben schreiben solle, dann hast Du freilich mit Deiner Aufforderung an mich schließlich doch Recht gehabt, ob Du nun Sanatorien kennst oder nicht und es fällt wirklich trotz meiner angestrengten Entschuldigung alles auf mich zurück oder besser gesagt, es reduziert sich auf eine kleine Meinungs- oder eine große Fähigkeitsdifferenz. Übrigens ist es erst Sonntag abend, mir bleiben also noch rund 1½ Tage, trotzdem die Uhr hier im Lesezimmer, in dem ich jetzt endlich allein geworden bin, einen merkwürdig schnellen Schlag hat.

    In einem nützt mir, abgesehen von der Gesundheit, mein Aufenthalt hier auf jeden Fall. Das Publikum besteht hauptsächlich aus ältern Schweizer Frauen des Mittelstandes, also aus Menschen, bei denen sich ethnographische Eigentümlichkeiten am zartesten und verschwindendsten zeigen. Wenn man sie daher an diesen konstatiert, dann sollte man sie doch schon sehr fest halten. Auch meine Unkenntnis ihres Deutsch hilft mir glaube ich bei ihrer Betrachtung, denn sie sind dadurch für mich viel enger gruppiert. Man sieht dann doch mehr, als wir vom Waggonfenster aus sahen, wenn auch nicht eigentlich anders. Um es vorläufig kurz zu sagen, würde ich mich bei der Beurteilung der Schweiz lieber als an Keller oder Walser, an Meyer halten.

    Für Dein Kriegsfeuilleton habe ich in Paris den Titel eines Buches samt Waschzettel abgeschrieben: Colonel Arthur Boucher: "La France victorieuse dans la guerre du demain. L'auteur ancien chef des operations militaires à l'Etat-major de l'armée demontre que si la France etait attaquée elle saurait se défendre avec la certitude absolue de la victoire." Ich schrieb das vor einer Buchhandlung auf dem Boulevard St. Denis als deutscher Literaturspion ab. Möchte es Dir nützen.

Dein Franz        
 


Wenn Dir Dein Markensammler nicht lieber ist als mir der meine, dann hebe mir das Kouvert auf.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Sanatorium Erlenbach: Nach seinem Aufenthalt mit Brod in Paris war Kafka am 13. September 1911 für eine Woche in diese Naturheilanstalt gefahren. Siehe BKR.


die Geschichte: Es handelt sich vermutlich um den von Brod und Kafka als Gemeinschaftswerk geplanten Reisetagebuchroman, der erst nach Kafkas Rückkehr in Prag begonnen wurde und den Titel "Richard und Samuel" erhielt. Siehe BKR.


Dein Kriegsfeuilleton: Max Brod, "Das kriegerische Paris", März 5 (1911), 1. Novemberheft, S.188 ff. Wiederabgedruckt in BKR.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at