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[Tagebuch, 27. November 1910; Sonntag]

27 (November 1910) Bernhard Kellermann hat vorgelesen: einiges ungedruckte aus meiner Feder, so fieng er an. Scheinbar ein lieber Mensch, fast graues stehendes Haar, mit Mühe glatt rasiert, spitze Nase, über die Backenknochen geht das Wangenfleisch oft wie eine Welle auf und ab. Er ist ein mittelmäßiger Schriftsteller mit guten Stellen (ein Mann geht auf den Korridor hinaus, hustet und sieht herum, ob niemand da ist) auch ein ehrlicher Mensch, der lesen will, was er versprochen hat, aber das Publikum ließ ihn nicht, aus Schrecken über die erste Nervenheilanstaltgeschichte, aus Langweile über die Art des Vorlesens giengen die Leute trotz schlechter Spannungen der Geschichte immerfort einzeln weg mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde. Als er nach dem 1/3 der Geschichte ein wenig Mineralwasser trank, gieng eine ganze Menge Leute weg. Er erschrak. Es ist gleich fertig, log er einfach. Als er fertig war, stand alles auf, es gab etwas Beifall, der so klang als wäre mitten unter allen den stehenden Menschen einer sitzen geblieben und klatschte für sich. Nun wollte aber Kellermann noch weiterlesen eine andere Geschichte, vielleicht noch mehrere. Gegen den Aufbruch öffnete er nur den Mund. Endlich nachdem er beraten worden war sagte er: Ich möchte noch gerne ein kleines Märchen vorlesen, das nur 15 Minuten dauert. Ich mache 5 Minuten Pause. Einige blieben noch, worauf er ein Märchen vorlas, das Stellen hatte, die jeden berechtigt hätten, von der äußersten Stelle des Saales mitten durch und über alle Zuhörer hinauszurennen.

Rudle 1 K

schuldig

Kars 20 h

Du sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund) schlaf nicht ein

"Ich schlafe nicht ein" sagte er rasch und schüttelte während des Augenaufschlagens den Kopf. Wenn ich einschliefe, wie könnte ich Dich dann bewachen? Und muß ich das nicht. Hast Du Dich nicht damals vor der Kirche deshalb an mir festgehalten. Ja es ist schon lange her, wir wissen es, laß nur die Uhr in der Tasche.

Es ist nämlich schon sehr spät sagte ich und zuckte mit den Achseln, womit ich zugleich meine Ungeduld entschuldigte und ihm einen Vorwurf darüber machte, dass er mich so lange aufhielt.

"Du" sagte ich und gab ihm einen kleinen Stoß mit dem Knie (bei dem plötzlichen Reden flog mir etwas Speichel als schlechtes Vorzeichen aus dem Mund).

Ich habe an Dich nicht vergessen sagte er und schüttelte den Kopf schon während des Augenaufschlagens

Ich habe es auch nicht befürchtet sagte ich. Sein Lächeln übersah ich und schaute auf das Pflaster. "Ich wollte Dir nur sagen, dass ich jetzt auf jeden Fall hinaufgehn werde. Ja. Denn wie Du weißt bin ich oben eingeladen, es ist schon spät und die Gesellschaft wartet auf mich. Vielleicht werden einzelne Veranstaltungen aufgeschoben bis ich komme. Ich will es nicht behaupten aber möglich ist es immerhin. Du wirst mich jetzt fragen, ob ich nicht vielleicht überhaupt auf die Gesellschaft verzichten könnte.

Das werde ich nicht fragen, denn erstens brennst Du ja darauf, es mir zu sagen und zweitens kümmert es mich nichts, denn mir ist hier unten und dort oben ganz gleich. Ob ich hier unten in der Abflußrinne liege und das Regenwasser staue oder oben mit den gleichen Lippen Champagner trinke mir macht das keinen Unterschied, nicht einmal im Geschmack