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[Postkarte. Stempel: Prag, 12. 3. 10] Im Br Frühjahr 1919?

[An:] Herrn Dr. Max Brod Postkonceptspraktikant Prag Schalengasse 1


Mein lieber Max, das von der Tarnowska verstehe ich nicht, dagegen das von Wiegler sehr gut, noch wichtiger aber als Wieglers Urteil ist das Handls, denn bei dem fängt schon das Publikum an. Mit der Nachricht, dass zwei Gedichte für mich vorbereitet sind, tröstest Du mich mehr als Du weißt. Trost aber brauch ich. Zu rechter Zeit haben jetzt Magenschmerzen und was Du willst angefangen und so stark, wie es sich bei einem durch Müllern stark gewordenen Menschen paßt. Den Nachmittag über, so lang er war, bin ich auf dem Kanapee gelegen, mit etwas Thee statt des Mittagessens in mir, und hatte nach einem Viertelstundenschlaf nichts anderes zu tun als mich zu ärgern, dass es nicht dunkel werden wollte. So gegen ½5 bildete sich eine Nuance der Helligkeit, die einfach nicht mehr aufhörte. Aber als es dann dunkel war, war es auch nicht recht. Laß das, Max, über die Mädchen zu klagen, entweder ist der Schmerz, mit dem sie Dich schmerzen, ein guter Schmerz; ist er es nicht, dann wehrst Du Dich, verlierst den Schmerz, bekommst die Kraft. Aber ich? Alles was ich besitze, ist gegen mich gerichtet, was gegen mich gerichtet ist, ist nicht mehr mein Besitz. Wenn mich z. B. - es ist nur ein reines Beispiel - wenn mich mein Magen schmerzt, so ist es eigentlich nicht mehr mein Magen, sondern etwas, was sich von einem fremden Menschen, der Lust bekommt, mich zu prügeln, wesentlich nicht unterscheidet. So aber ist es mit allem, ich bestehe nur aus Spitzen, die in mich hinein gehn, will ich mich da wehren und Kraft aufwenden, heißt das nur die Spitzen besser hineindrücken. Manchmal möchte ich sagen, Gott weiß, wie ich überhaupt noch Schmerzen spüren kann, da ich vor lauter Dringlichkeit, sie mir zu verursachen, gar nicht dazu komme, sie aufzunehmen. Öfters aber muß ich sagen, ich weiß es auch, ich spüre ja wirklich keine Schmerzen, ich bin ja wirklich der schmerzfreieste Mensch, den man sich denken kann. Ich hatte also keine Schmerzen auf dem Kanapee, ich ärgerte mich nicht über die Helligkeit, die zu ihrer Zeit aufhörte und mit dem Dunkel war es genau so. Aber lieber Max, das mußt Du mir glauben wenn Du es auch nicht willst, alles war an diesem Nachmittag so eingerichtet, dass ich, wenn ich ich wäre, alle jene Schmerzen in der genauen Reihenfolge hätte spüren müssen. Von heute ab lasse ich es mir mit keiner Unterbrechung mehr ausreden: Ein Schuß wäre das Beste. Ich schieße mich einfach von dem Platz weg, auf dem ich nicht bin. Gut, es wäre feig; feig bleibt freilich feig, selbst wenn es in einem Fall nur Feigheit gäbe. Dieser eine Fall ist hier, hier ist eine Situation, die um jeden Preis beseitigt werden muß, aber niemand als Feigheit beseitigt sie, Muth macht aus ihr nur Krampf. Und beim Krampf bleibt es, mach Dir keine Sorgen.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Tarnowska . . . Handls: Der sensationelle Prozeß wegen der Ermordung des Grafen Komarowsky, in dessen Mittelpunkt die Gräfin Tarnowska stand, fand vom 4. März bis zum 20. Mai 1910 in Venedig statt. Über den Beginn dieses Prozesses erschien am 6. März in der Bohemia ein ausführlicher Artikel "Die Tarnowska" von Willi Handl, dem Schauspielreferenten. (Der Kommentar Paul Wieglers konnte nicht identifiziert werden.)