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Brief an Max Brod
[Prag, Anfang Juli 1909. Briefkopf: Úrazová pojišt'ovna dělnická pro království České v Praze.]


Mein lieber Max - rasch, weil ich so schläfrig bin. Ich bin schläfrig! Ich weiß nicht, was ich im Augenblick vorher gemacht habe und was ich einen Augenblick später machen werde und was ich gegenwärtig mache, weiß ich schon gar nicht. Ich löse den Knoten einer Bezirkshauptmannschaft eine Viertelstunde lang auf und räume dann sofort mit plötzlicher Geistesgegenwart einen Akt weg, den ich lange gesucht habe den ich brauche und den ich noch nicht benützt habe. Und auf dem Sessel liegt ein solcher Haufen Reste, dass ich meine Augen nicht einmal so groß aufmachen kann, um den Haufen mit einem Blick zu sehn.

    Aber Dein Dobřichowitz. Das ist ja förmlich ganz neu. Was Dir aus diesem Gefühl heraus noch gelingen kann. Nur der erste Absatz ist vielleicht für die Gegenwart wenigstens etwas unwirklich. "Alles ist wohlriechend u.s.w." da wendest Du Dich in eine Tiefe der Geschichte, die noch nicht besteht. "Die Stille aus einer großen Gegend - - u.s.w." das haben die Freunde in der Geschichte nicht gesagt glaube ich; wenn man sie zerreißt, haben sie das nicht gesagt. "Die Villen dieser Nacht"

    Aber dann ist alles gut und wirklich, man schaut hinein wie auf die Entstehung der Nacht. Am besten hat mir gefallen: "Er suchte noch ein Steinchen fand es aber nicht. Wir eilten u.s.w."

    Der Roman, den ich Dir gegeben habe, ist mein Fluch, wie ich sehe; was soll ich machen. Wenn einige Blätter fehlen, was ich ja wußte, so ist doch alles in Ordnung und es ist wirkungsvoller, als wenn ich ihn zerrissen hätte. Sei doch vernünftig. Dieses Fräulein ist doch kein Beweis. Solange sie Deinen Arm um Hüften, Rücken oder Genick hat, wird ihr in der Hitze je nachdem alles mit dem einheitlichsten Ruck sehr gefallen oder gar nicht. Was hat das zu bedeuten gegenüber dem mir sehr gut bekannten Centrum des Romans, das ich in sehr unglücklichen Stunden noch irgendwo in mir spüre. Und jetzt nichts mehr darüber, darin sind wir einig.

    Ich sehe, dass ich ewig weiterschreiben möchte, nur um nicht arbeiten zu müssen ... Das sollte ich doch nicht.

Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Dein Dobřichowitz: Brods Skizze "Zirkus auf dem Lande", die am 1. Juli 1909 in Die Schaubühne 5, II. S. 33-35 erschienen ist. Dort beschreibt er einen Ausflug nach Dobrichowitz (südwestlich von Prag, an der Beraun), den er zu Pfingsten (30./31. Mai 1909) mit Kafka und Felix Weltsch unternommen hatte.


Der Roman: Mit großer Wahrscheinlichkeit "Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at