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Brief an Max Brod

[Prag, wahrscheinlich 11.4.09]


Mein lieber Max,

ja ich konnte gestern abend nicht kommen. In unserer Familie ist eine förmliche Schlacht, meinem Vater geht es schlechter, mein Großvater ist im Geschäft schwer ohnmächtig geworden.

    Heute am Anfang der Dämmerung um sechs so habe ich "Steine, nicht Menschen " beim Fenster gelesen. Es führt aus dem Menschlichen auf eine schmeichlerische Weise hinaus, es ist nicht Sünde und nicht Sprung, sondern ein öffentlicher, wenn auch nicht breiter Auszug, dessen einzelne Schritte immer Berechtigung begleitet. Man glaubt, wenn man das Gedicht fest umarmt, kann man ohne eigene Mühe, mit der Freude der Umarmung und wirklicher als wirklich aus dem Unglück herauskommen.

    Wir haben gestern von einer Geschichte von Hamsun gesprochen, ich erzählte, wie der Mann sich vor dem Hotel in eine Droschke setzt, das war nicht das Eigentliche. Der Mann sitzt vor allem mit einem Mädchen, das er liebt an einem Tisch irgendwo in einem Restaurant. In diesem Restaurant sitzt aber an einem andern Tisch ein junger Mensch, den wieder das Mädchen liebt. Durch irgendein Kunststück bringt der Mann den jungen Menschen zu seinem Tisch. Der junge Mensch setzt sich zum Mädchen, der Mann steht auf, nach einem Weilchen jedenfalls, wahrscheinlich hält er die Sessellehne dabei und sagt mit möglichstes Annäherung an die Wahrheit: "Meine Herrschaften - es tut mir sehr leid - Sie, Fräulein Elisabeth haben mich heute wieder ganz und gar bezaubert, aber ich sehe schon ein, dass ich Sie doch nicht haben kann - es ist mir ein Rätsel -" Dieser letzte Satz, das ist doch eine Stelle, wo die Geschichte in der Gegenwart des Lesers sich selbst zerstört oder wenigstens verdunkelt, nein verkleinert, entfernt, so dass der Leser, um sie nicht zu verlieren, in die offenbare Umzingelung hineingehn muß. - Sollte Dir nicht gut sein, schreib mir gleich.

Dein Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Steine nicht Menschen": Brods Gedicht "Steine; nicht Menschen", am 11. April 1909 in der Osterbeilage zur Bohemia erschienen, wurde dann in den Band Tagebuch in Versen, Berlin: Juncker [1910], S. 70f., aufgenommen.


Geschichte von Hamsun: Knut Hamsuns Roman Unter Herbststernen (erste deutsche Ausgabe 1908). Hamsun gehörte zu den Autoren, die Kafka "mit Begeisterung las" (FK 46).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at