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An Hedwig W.

12 Uhr [Prag, November 1907]
 

Also müde, aber gehorsam und dankbar: ich danke Dir. Nicht wahr, es ist alles gut. So sind die Übergänge vom Herbst zum Winter oft. Und da jetzt Winter ist, so sitzen wir - es ist doch so - in einem Zimmer, nur dass die Wände, an denen jeder von uns sitzt, ein bischen weit von einander sind, aber das ist bloß merkwürdig und es müßte nicht sein.

Was für Geschichten, wie viele Menschen Du kennst und die Spaziergänge und die Pläne. Ich weiß keine Geschichten, sehe keine Menschen, mache täglich Spaziergänge in Eile durch vier Gassen, deren Ecken ich schon abgerundet habe, und über einen Platz, zu Plänen bin ich zu müde. Vielleicht werde ich von den erfrorenen Fingerspitzen aufwärts - ich trage keine Handschuhe - allmählich zu Holz, dann wirst Du einen netten Briefschreiber in Prag haben und an meiner Hand ein schönes Besitztum. Und deshalb, da ich so viehisch lebe, muß ich Dich zweifach deshalb um Verzeihung bitten, dass ich Dich nicht in Ruhe lasse.

22 Um Gotteswillen, warum habe ich den Brief nicht geschickt?! Du wirst böse sein, oder bloß unruhig. Verzeih mir. Sei auch gegen meine Faulheit oder wie Du es nennen willst, ein bischen freundlich. Aber es ist nicht nur Faulheit, auch Furcht, allgemeine Furcht vor dem Schreiben, dieser entsetzlichen Beschäftigung, die jetzt entbehren zu müssen mein ganzes Unglück ist. Vor allem aber: nur zitternde Dinge soll man hin und wieder durch irgendeine Veranstaltung zur Ruhe bringen, dahin gehören doch unsere Beziehungen nicht, möchte ich glauben.

Und trotz allem, ich hätte Dir längst geschrieben, statt den angefangenen Brief klein zusammengelegt bei mir zu tragen, aber ich bin jetzt ganz plötzlich unter eine Menge Leute gekommen. Offiziere, Berliner, Franzosen, Maler, Coupletsänger, und die haben mir die paar Abendstunden nun ganz lustig weggenommen, freilich nicht nur die Abendstunden, gestern in der Nacht z. B. habe ich dem Kapellmeister eines Orchesters, für das ich keinen Kreuzer Trinkgeld hatte, statt dessen ein Buch geborgt. Und so ähnlich. Man vergißt dabei, dass die Zeit vergeht und dass man die Tage verliert, darum ist es zu billigen. Meine Grüße, Liebe, und mein Dank

Dein Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at