Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Hedwig W.

[Prag, Anfang September 1907]
 

Mein liebes Mädchen, es ist wieder spät abend, ehe ich schreiben kann, und es ist kühl, weil wir doch Herbst haben, aber ich bin ganz durchwärmt von Deinem guten Brief. Ja, weiße Kleider und Mitleid kleiden Dich am schönsten, jedoch Pelzwerk verdeckt das ängstliche Mädchen zu sehr und will für sich zu sehr bewundert werden und leiden machen. Und ich will doch Dich und selbst Dein Brief ist nur eine verzierte Tapete, weiß und freundlich, hinter der Du irgendwo im Gras sitzt oder spazieren gehst und die man erst durchstoßen müßte, um Dich zu fangen und zu halten.

Aber gerade jetzt, da alles besser werden soll und der Kuß, den ich auf die Lippen bekommen habe, alles künftigen Guten bester Anfang ist, kommst Du nach Prag, gerade da ich Dich besuchen und bei Dir bleiben möchte, sagst Du unhöflich adieu und gehst weg. Ich hätte doch schon meine Eltern hier gelassen, einige Freunde und anderes, was ich entbehren müßte, jetzt wirst Du noch in dieser verdammten Stadt sein und es scheint mir, es wird mir unmöglich sein, mich durch die vielen Gassen zum Bahnhof hinaus zu drücken. Und doch ist Wien für mich notwendiger, als Prag für Dich. Ich werde an der Exportakademie ein Jahr lang studieren, ich werde in einer ungemein anstrengenden Arbeit bis an den Hals stecken, aber ich bin sehr zufrieden damit. Da mußt Du mein Zeitunglesen noch ein wenig verschieben, denn ich werde doch auch spazieren gehn und Dir Briefe schreiben müssen, sonst werde ich keine Freude mir erlauben dürfen.

Nur an den Deinigen werde ich immer so gerne teilnehmen, nur mußt Du mir mehr Gelegenheit dazu geben als beim letzten Kränzchen. Denn da gibt es noch viele für mich sehr wichtige Dinge, von denen Du gar nichts schreibst. Um wieviel Uhr Du hinkamst, wann Du weggingst, wie Du angezogen warst, an welcher Wand bist Du gesessen, ob Du viel gelacht hast und getanzt, wem hast Du eine Viertelminute lang in die Augen geschaut, warst Du am Ende müde und hast gut geschlafen? Und wie konntest Du schreiben und einen Brief - das ist das ärgste - unterschlagen, der mir gehört. Nur das hat Dich an diesem schönen Neujahrswetter bedrückt, als Du mit Mutter und Großmutter zum Tempel über das Pflaster, die zwei Stufen und die Steinplatten gingst. Wobei Du nicht bedachtest, dass mehr Mut zum Nichthoffen als zum Hoffen gehört und dass, wenn aus einem Temperament ein solcher Mut möglich ist, schon der sich wendende Wind dem Mut die günstigste Richtung geben kann. Ich küsse Dich mit allem Guten, was ich an mir kenne.

Dein Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at