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An Hedwig W.
Mein liebes Mädchen, es ist wieder spät abend, ehe ich schreiben
kann, und es ist kühl, weil wir doch Herbst haben, aber ich bin ganz
durchwärmt von Deinem guten Brief. Ja, weiße Kleider und Mitleid
kleiden Dich am schönsten, jedoch Pelzwerk verdeckt das ängstliche
Mädchen zu sehr und will für sich zu sehr bewundert werden und
leiden machen. Und ich will doch Dich und selbst Dein Brief ist nur eine
verzierte Tapete, weiß und freundlich, hinter der Du irgendwo im
Gras sitzt oder spazieren gehst und die man erst durchstoßen müßte,
um Dich zu fangen und zu halten.
Aber gerade jetzt, da alles besser werden soll und der Kuß, den ich
auf die Lippen bekommen habe, alles künftigen Guten bester Anfang
ist, kommst Du nach Prag, gerade da ich Dich besuchen und bei Dir bleiben
möchte, sagst Du unhöflich adieu und gehst weg. Ich hätte
doch schon meine Eltern hier gelassen, einige Freunde und anderes, was
ich entbehren müßte, jetzt wirst Du noch in dieser verdammten
Stadt sein und es scheint mir, es wird mir unmöglich sein, mich durch
die vielen Gassen zum Bahnhof hinaus zu drücken. Und doch ist Wien
für mich notwendiger, als Prag für Dich. Ich werde an der Exportakademie
ein Jahr lang studieren, ich werde in einer ungemein anstrengenden Arbeit
bis an den Hals stecken, aber ich bin sehr zufrieden damit. Da mußt
Du mein Zeitunglesen noch ein wenig verschieben, denn ich werde doch auch
spazieren gehn und Dir Briefe schreiben müssen, sonst werde ich keine
Freude mir erlauben dürfen.
Nur an den Deinigen werde ich immer so gerne teilnehmen, nur mußt
Du mir mehr Gelegenheit dazu geben als beim letzten Kränzchen. Denn
da gibt es noch viele für mich sehr wichtige Dinge, von denen Du gar
nichts schreibst. Um wieviel Uhr Du hinkamst, wann Du weggingst, wie Du
angezogen warst, an welcher Wand bist Du gesessen, ob Du viel gelacht hast
und getanzt, wem hast Du eine Viertelminute lang in die Augen geschaut,
warst Du am Ende müde und hast gut geschlafen? Und wie konntest Du
schreiben und einen Brief - das ist das ärgste - unterschlagen, der
mir gehört. Nur das hat Dich an diesem schönen Neujahrswetter
bedrückt, als Du mit Mutter und Großmutter zum Tempel über
das Pflaster, die zwei Stufen und die Steinplatten gingst. Wobei Du nicht
bedachtest, dass mehr Mut zum Nichthoffen als zum Hoffen gehört
und dass, wenn aus einem Temperament ein solcher Mut möglich
ist, schon der sich wendende Wind dem Mut die günstigste Richtung
geben kann. Ich küsse Dich mit allem Guten, was ich an mir kenne.
Dein Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at