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An Hedwig W.

[Prag, Anfang September 1907]
 

Trotz allem, Liebe, dieser Brief ist spät gekommen, Du hast Dir gründlich überlegt, was Du geschrieben hast. Ich habe ihn auf keine Weise früher erzwingen können, nicht dadurch, dass ich in der Nacht aufrecht im Bett saß, nicht dadurch, dass ich auf dem Kanapee in Kleidern schlief und während des Tages öfter nachhause kam, als es recht war. Bis ich heute abend davon abließ und Dir schreiben wollte, vorher aber mit einigen Papieren in einem offenen Fache spielte und Deinen Brief darin fand. Er war schon früh gekommen, aber man hatte ihn, als man abstaubte, aus Vorsicht ins Fach gesteckt.

Ich meinte, einen Brief schreiben sei wie ein Plätschern im Uferwasser, aber ich meinte nicht, dass man das Plätschern hört.

Und nun setze Dich und lies ruhig und lasse mich statt meiner Buchstaben in Deine Augen schauen.

Stelle Dir vor, A bekommt von X Brief und Brief und in jedem sucht X die Existenz des A zu widerlegen. Er führt seine Beweise mit guter Steigerung, schwer zugänglichen Beweisen, dunkler Farbe, bis zu einer Höhe, dass sich A fast eingemauert fühlt und selbst und ganz besonders die Lücken in den Beweisen ihn zum Weinen bringen. Alle Absichten des X sind zuerst verdeckt, er sagt nur, er glaube, A sei recht unglücklich, er habe diesen Eindruck, im Einzelnen wisse er nichts; übrigens tröstet er den A. Allerdings wenn es so wäre, so müsse man sich nicht wundern, denn A sei ein unzufriedener Mensch, das wisse auch Y und Z. Man könne ja am Ende einräumen, er habe Grund zur Unzufriedenheit; man sehe ihn an, man sehe seine Verhältnisse an und man wird nicht widersprechen. Wenn man sie aber recht beobachtet, wird man sogar sagen müssen, A ist nicht unzufrieden genug, denn wenn er seine Lage so gründlich untersuchen würde, wie X es tut, könnte er nicht weiterleben. Jetzt tröstet ihn X nicht mehr. Und A sieht, sieht es mit offenen Augen, X ist der beste Mensch und er schreibt mir solche Briefe, was kann er um Gotteswillen anderes wollen, als mich ermorden. Wie gut er indem letzten Augenblick noch ist, da er, um mich vor einem Schmerz zu verschonen, sich nicht verraten will, aber vergißt, dass das einmal entzündete Licht wahllos beleuchtet.

Was hat dann der Satz aus Niels Lyhne zu bedeuten und der Sand ohne das Glücksschloß. Natürlich hat der Satz recht, aber hätte nicht recht, der von rinnendem Sand spricht? Aber wer den Sand sieht, ist nicht im Schloß; und wohin rinnt der Sand?

Was soll ich jetzt? Wie werde ich mich zusammenhalten? Ich bin auch in Triesch, gehe doch mit Dir über den Platz, jemand verliebt sich in mich, ich bekomme noch diesen Brief, ich lese ihn, verstehe ihn kaum, jetzt muß ich Abschied nehmen, halte Deine Hand, laufe weg, und verschwinde gegen die Brücke zu. Oh bitte, es ist genug.

Ich habe deshalb nichts für Dich in Prag gekauft, weil ich vom 1. Oktober an wahrscheinlich in Wien sein werde. Verzeih es mir.

Dein Franz K.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at