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[An Max Brod]
[Prag, Mai 1907]

Mein lieber Max
Ich bin doch ganz unbrauchbar, aber darin bin ich unveränderlich. Gestern nachmittag schrieb ich Dir eine Rohrpostkarte: "Hier in der Grabentabaktrafik bitte ich Dich um Verzeihung dafür, dass ich heute Abend nicht zu Dir komme. Ich habe Kopfschmerzen, die Zähne bröckeln mir ab, mein Rasiermesser ist stumpf; es ist ein unangenehmer Anblick. Dein F."
Jetzt Abend lege ich mich auf das Kanapee, denke daran dass ich mich also entschuldigt habe und dass wieder ein wenig Ordnung in der Welt ist; aber wie ich das so überlegte, erinnere ich mich daran dass ich Wladislausgasse statt Schalengasse geschrieben habe.
Ich bitte jetzt, ärgere Dich darüber und rede deshalb nicht mehr mit mir. Mein Weg ist gar nicht gut und ich muß - soviel Übersicht habe ich - wie ein Hund zugrunde gehn. Auch ich würde mir gerne ausweichen, aber da das nicht möglich ist, freue ich mich nur noch darüber, dass ich kein Mitleid mit mir habe und so egoistisch also endlich geworden bin. Diesen Höhepunkt sollten wir noch feiern, ich und Du meine ich; gerade als künftiger Feind dürftest Du das feiern.
Es ist spät. Du sollst wissen, dass ich Dir heute eine gute Nacht gewünscht habe

Dein Franz.

Mai 1907


Wladislausgasse: Dort wohnte Kafkas Jugendfreund Oskar Pollak (1883 - 1915).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at