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[An Max Brod]
[Prag, vermutlich 1904]

Lieber Max,
besonders da ich gestern nicht im Kolleg war, scheint es mir nothwendig, Dir zu schreiben, um Dir zu erklären, warum ich an dem Redoutenabend nicht mit euch gegangen bin, trotzdem ich es vielleicht versprochen hatte.
Verzeih es mir, ich wollte mir ein Vergnügen machen und Dich und P. für einen Abend zusammenbringen, denn ich dachte, es müßten hübsche Gruppierungen entstehn, wenn Du, vom Augenblick gezwängt, überspitzte Bemerkungen machst - so thust Du es unter mehrern - er dagegen aus seinem vernünftigen Überblick, den er fast über alles außer Kunst hat, das Entsprechende entgegenzeigte.
Aber als ich daran dachte, hatte ich an Deine Gesellschaft, an die kleine Gesellschaft in der Du warst, vergessen. Dem ersten Anblick eines Fremden zeigt sie Dich nicht vorteilhaft. Denn theilweise ist sie von Dir abhängig, theilweise selbstständig. Soweit sie abhängig ist, steht sie um Dich als empfindliches Bergland mit bereitem Echo. Das macht den Zuhörer bestürzt. Während seine Augen sich mit einem Gegenstand vor ihm ruhig beschäftigen möchten, wird sein Rücken geprügelt. Da muß die Genußfähigkeit für beides verloren gehn, besonders wenn er nicht ungewöhnlich gewandt ist.
Soweit sie aber selbstständig sind, schaden sie Dir noch mehr, denn sie verzerren Dich, Du erscheinst durch sie an unrechter Stelle, Du wirst dem Zuhörer gegenüber durch Dich widerlegt, was hilft der schöne Augenblick, wenn die Freunde consequent sind. Freundliche Masse hilft nur bei Revolutionen, wenn alle zugleich und einfach wirken, gibt es aber einen kleinen Aufstand unter verstreutem Licht an einem Tisch, dann vereiteln sie ihn. Es ist so, Du willst Deine Dekoration "Morgenlandschaft" zeigen und stellst sie als Hintergrund auf, aber Deine Freunde glauben, für diese Stunde wäre "Wolfsschlucht" passender und sie stellen als Seitenkoulissen Dir zur Seite Deine "Wolfsschlucht". Freilich es sind beide von Dir gemalt und jeder Zuschauer kann das erkennen, aber was für bestürzende Schatten sind auf der Wiese der Morgenlandschaft und über dem Feld fliegen ekelhafte Vögel. So glaube ich, ist es. Es geschieht Dir selten aber doch bisweilen (nun ich verstehe das noch nicht ganz) dass Du sagst: "Hier im Flaubert sind lauter Einfälle über Thatsachen, weißt Du, kein Gemütsschwefel". Wie könnte ich Dich damit häßlich machen, wenn ich es bei einer Gelegenheit so anwende: Du sagst "Wie schön ist Werther". Ich sage: "Wenn wir aber die Wahrheit sagen wollen, so ist viel Gemütsschwefel drin". Das ist eine lächerliche unangenehme Bemerkung, aber ich bin Dein Freund, während ich es sage, ich will Dir nichts böses thun, ich will dem Zuhörer nur Deine runde Ansicht über dergleichen Dinge sagen. Denn oft kann es Zeichen der Freundschaft sein, den Ausspruch des Freundes nicht mehr zu durchdenken. Aber inzwischen ist der Zuhörer traurig, müde geworden. -
Ich habe das geschrieben, weil es mir trauriger wäre, Du verzeihtest mir nicht, dass ich den Abend nicht mit Dir verbracht habe, als wenn Du mir diesen Brief nicht verzeihst. - Ich grüße Dich schön - Dein Franz K.

Leg es noch nicht weg, ich habe es noch einmal durchgelesen und sehe, es ist nicht klar. Ich wollte schreiben: Was für Dich unerhörtes Glück ist, nämlich in ermatteter Zeit nachlässig werden zu dürfen und doch durch Hilfe des ganz Gleichgesinnten ohne eigenen Schritt dahin geführt zu werden wohin man strebte, dieses gerade zeigt Dich bei Gelegenheit einer Repräsentation - das dachte ich mir bei P - nicht so, wie ich will. - Jetzt ist es genug.


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.

P.: Kafkas Mitschüler und Studienfreund Ewald Pribram, in den Briefen öfters erwähnt. - Züge seiner Persönlichkeit sind in der Figur des Gegenspielers in "Beschreibung eines Kampfes" deutlich erkennbar.
Kafka hatte in ihm "gegen Ende des Gymnasiums und während der Universitätszeit einen guten Freund". Sein Vater, Otto Pribram, war von 1895 bis zu seinem Tode 1917 Präsident der "Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag", bei der Kafka 1908 angestellt wurde.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at