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[An Oskar Pollak]
[Prag, 20.12.1903; Sonntag]
[Stempel: 21. XII. 1903]

Nein, geschrieben will ich Dir noch haben, ehe Du selbst kommst. Wenn man einander schreibt, ist man wie durch eine Seil verbunden, hört man dann auf, ist das Seil zerrissen, auch wenn es nur ein Bindfaden war, da will ich es also rasch und vorläufig zusammenknüpfen.
Gestern abend hat mich nämlich dieses Bild gepackt. Nur dadurch, dass die Menschen alle Kräfte spannen und einander liebend helfen, erhalten sie sich in einer leidlichen Höhe über einer höllischen Tiefe, nach der sie wollen. Untereinander sind sie durch Seile verbunden, und bös ist es schon, wenn sich um einen die Seile lockern und er ein Stück tiefer sinkt als die andern in den leeren Raum, und gräßlich ist es, wenn die Seile um einen reißen und er jetzt fällt. Darum soll man sich an die andern halten. Ich habe die Vermutung, dass die Mädchen uns oben halten, weil sie so leicht sind, darum müssen wir die Mädchen lieb haben und darum sollen sie uns lieb haben.
Genug, genug, mit einem guten Grund fürchte ich mich, einen Brief an Dich anzufangen, denn er dehnt sich dann immer so und findet kein gutes Ende. Darum habe ich Dir auch von München nicht mehr geschrieben, obwohl ich so viel zu schreiben hatte. Aber außerdem kann ich in der Fremde gar nicht schreiben. Alle Worte sind mir dann wild zerstreut und ich kann sie nicht in Sätze einfangen und dann drückt alles Neue so, dass man ihm gar nicht wehren und dass man es nicht übersehn kann.
Jetzt kommst Du ja selbst. Ich will doch nicht den ganzen Sonntagnachmittag an dem Schreibtisch versitzen - ich sitze hier schon seit zwei Uhr, und jetzt ist es fünf -, wenn ich so bald mit Dir reden kann. Ich freue mich so. Du wirst eine kalte Luft mitbringen, die wird allen dumpfen Köpfen gut tun. Ich freue mich so. Auf Wiedersehn.

Dein Franz

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at