Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

[Hugo Bergmann an Franz Kafka]
[Prag, 1902 (?)]

Warum ich Zionist geworden bin? In Deinem Brief fehlt natürlich wieder nicht der obligate Spott über meinen Zionismus. Fast sollte ich schon aufhören, mich darüber zu wundern, warum Du, der Du, wenn nicht mehr, doch lange mein Schulkamerad warst, meinen Zionismus nicht verstehst. Wenn ich einen Irren vor mir sähe und er hätte eine fixe Idee, ich würde nicht lachen über ihn, denn ihm ist seine Idee ein Stück leben. Mein Zionismus ist für Dich auch nur eine "fixe Idee" von mir. Daß sie vielleicht auch ein Stück meines Lebens ist, das weißt Du gewiß nicht, und doch ist es so. Er ist mir vielleicht noch mehr. Zusammengestückt und zusammengeflickt ist er aus den Fetzen meines Ichs. Ich sehe Dein Lächeln. Du würdest es begreifen, verstündest Du nur Dich und mich. Du suchtest unbewußt seit Deiner Kindheit nach einem Inhalt fürs Leben. Und auch ich tat das. Doch Du warst anders gewachsen als ich. Du konntest Dich in Sonnenhöhe schwingen und Deine Träume bis hinauf an den Himmel spannen. Was lähmte Deine Kraft? Und Du warst seit je auf Dich allein angewiesen und bekamst so auch die Kraft, allein zu sein. Und ich? Ich habe nie allzuviel geträumt, und wenn ich es tat, dann konnten meine Träume nicht weit reichen, denn heran drängte sich in sie die rauhe Wirklichkeit und nur allzugut sorgte sie dafür, mich nicht übers Ziel schießen zu lassen. Ich suchte und suchte ... und allein wie Du zu stehen, dazu hatte ich die Kraft nicht. Es war mein Erbteil, dass ich mich nach andern sehnte, dass mein Herz liebewarm schlug. Glaube ja nicht, es wäre Mitleid, das mich zum Zionisten gemacht hat. Mein Zion ist ein gutes Stück Egoismus. Ich fühle, wie ich fliegen möchte, wie ich schaffen möchte und nicht kann, nicht mehr die Kraft habe, und doch fühle ich auch, dass ich in andern Verhältnissen vielleicht die Kraft hätte, dass mir die angeborene Fähigkeit gar nicht abgeht. Nur die Kraft habe ich nicht. Und so ist mir der Zionismus der Ausdruck für meine Sehnsucht nach Liebe, weil ich mir bewußt bin, dass andere Tausende so leiden wie ich, ich will mit ihnen gehen, mit ihnen arbeiten - ach könnte ich es nur - doch wenigstens mitfühlen. Vielleicht überwinden wir doch noch einmal die Schwäche, stehen noch einmal stämmig auf eigenem Boden und nicht entwurzelt schwankend wie ein Rohr, vielleicht, vielleicht finde ich einmal auch noch meine Kraft wieder --- Manchmal scheint es mir, ich könnte fliegen, aber dann ist meine Kraft gebrochen und meine Flügel sind lahm. Ich möchte einmal auf unserem Boden stehen und nicht wurzellos sein. Vielleicht wird dann auch meine Kraft mir zurückkehren.


Briefentwurf. - Druckvorlage: Schmuel Hugo Bergmann, "Tagebücher & Briefe, Band 1. 1901 - 1948". Hrsg. von Miriam Sambursky. Mit einer Einleitung von Nathan Rotenstreich. Eine Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts. Königstein/Ts 1985, S. 9.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at