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[An Oskar Pollak]
[Prag, Ankunftstempel: 24. VIII. 1902; Sonntag]

Ich saß an meinem schönen Schreibtisch. Du kennst ihn nicht. Wie solltest Du auch. Das ist nämlich ein gut bürgerlich gesinnter Schreibtisch, der erziehen soll. Der hat dort, wo gewöhnlich die Knie des Schreibers sind, zwei erschreckliche Holzspitzen. Und nun gib acht. Wenn man sich ruhig setzt, vorsichtig, und etwas gut Bürgerliches schreibt, dann ist einem wohl. Aber wehe, wenn man sich aufregt und der Körper nur ein wenig bebt, dann hat man unausweichlich die Spitzen in den Knien und wie das schmerzt. Ich könnte Dir die dunkelblauen Flecken zeigen. Und was will das nun bedeuten: "Schreibe nichts Aufgeregtes und laß Deinen Körper nicht zittern dabei."
Ich saß also an meinem schönen Schreibtisch und schrieb den zweiten Brief an Dich. Du weißt, ein Brief ist wie ein Leithammel, gleich zieht er zwanzig Schafbriefe nach.
Hu, flog da die Tür auf. Wer kam da herein, ohne anzuklopfen. Ein unhöflicher Patron. Ah, ein viellieber Gast. Deine Karte. Es ist eigentümlich mit dieser ersten Karte, die ich hier bekam. Unzähligemal habe ich sie gelesen, bis ich Dein ganzes a-b-c kannte, und erst, als ich mehr herauslas, als darin stand, dann war es Zeit aufzuhören und meinen Brief zu zerreißen. Ritz-ratz machte er und war tot.
Eines las ich freilich, was breit darinnen stand und gar nicht schön zu lesen war: mit dem bösen verfluchten Kritikus im Leib fährst Du durchs Land und das soll man niemals tun.
Aber ganz und gar verkehrt und falsch scheint mir das, was Du vom Goethe-Nationalmuseum schreibst. Mit Einbildungen und Schulgedanken bist Du hineingegangen, hast gleich am Namen zu mäkeln angefangen. Freilich der Name "Museum" ist gut, aber "National" scheint mir noch besser, aber beileibe nicht als Geschmacklosigkeit oder Entheiligung oder dergleichen, wie Du schreibst, sondern als feinste wunderfeinste Ironie. Denn was Du vom Arbeitszimmer, Deinem Allerheiligsten, schreibst, ist wieder nichts anderes als eine Einbildung und ein Schulgedanke und ein klein wenig Germanistik, in der Hölle soll sie braten.
Das war, beim Teufel, eine Leichtigkeit, das Arbeitszimmer in Ordnung zu halten und es dann zu einem "Museum" für die "Nation" zu arrangieren. Jeder Zimmermann und Tapezierer -, wenn es ein rechter war, der Goethes Stiefelknecht zu schätzen wußte -, konnte das und alles Lobes war es wert.
Weißt Du aber, was das Allerheiligste ist, das wir überhaupt von Goethe haben können, als Andenken ... die Fußspuren seiner einsamen Gänge durch das Land ... die wären es. Und nun kommt ein Witz, ein ganz vortrefflicher, bei dem der liebe Herrgott bitterlich weint und die Hölle ganz höllische Lachkrämpfe bekommt - das Allerheiligste eines Fremden können wir niemals haben, nur das eigene - das ist ein Witz, ein ganz vortrefflicher. In ganz winzigen Stücklein hab ich Dir ihn schon einmal angebissen - in den Chotekschen Anlagen, Du hast weder geweint noch gelacht, Du bist eben weder der liebe Herrgott noch der böse Teufel.
Nur der böse Kritikus (Verhunzung Thüringens) lebt in Dir und das ist ein untergeordneter Teufel, den man aber doch loswerden sollte. Und so will ich Dir zu Nutz und Frommen die absonderliche Geschichte erzählen, wie weyland ..., den Gott selig habe, von Franz Kafka überwunden wurde.
Lief mir der immer nach, wo ich lag und stand. Wenn ich auf der Weinbergsmauer lag und übers Land sah und vielleicht etwas Liebes schaute oder hörte dort weit hinter den Bergen, so kannst Du sicher sein, dass sich plötzlich jemand mit ziemlichem Geräusch hinter der Mauer erhob, feierlich mäh mäh sagte und gravitätisch seine treffende Ansicht zum Ausdruck brachte, dass die schöne Landschaft entschieden einer Behandlung bedürftig sei. Er explizierte den Plan einer gründlichen Monographie oder einer lieblichen Idylle ausführlich und bewies ihn wirklich schlagend. Ich konnte ihm nichts entgegensetzen als mich und das war wenig genug.


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... Du kannst Dir nicht denken, wie mich das alles jetzt quält. Galgenlustigkeit und Landluft ist alles, was ich Dir geschrieben habe, und greller Tag, der in die Augen sticht, ist das, was ich Dir schreibe. Der Onkel aus Madrid (Eisenbahndirektor) war hier, seinetwegen war ich auch in Prag. Kurz vor seiner Ankunft hatte ich den wunderlichen, leider sehr wunderlichen Einfall, ihn zu bitten, nein nicht zu bitten, zu fragen, ob er mir nicht zu helfen wüßte aus diesen Dingen, ob er mich nicht irgendwohin führen könnte, wo ich schon endlich frisch Hand anlegen könnte. Nun gut, ich fing vorsichtig an. Es ist unnötig, Dir das ausführlich zu erzählen. Er fing salbungsvoll zu sprechen an, obwohl er sonst ein ganz lieber Mensch ist, tröstete mich, gut, gut. Streusand drauf. Ich schwieg sofort, ohne es eigentlich zu wollen, und ich habe in den zwei Tagen, die ich seinethalben in Prag bin, obwohl ich die ganzen Tage bei ihm bin, nicht mehr davon gesprochen. Heute Abend fährt er weg. Ich fahre noch auf eine Woche nach Liboch, dann auf eine Woche nach Triesch, dann nach Prag wieder und dann nach München, studieren, ja studieren. Warum schneidest Du Grimassen? Ja, ja, ich werde studieren. Warum schreibe ich Dir eigentlich das alles. Ich wußte ja vielleicht, dass das hoffnungslos war, wozu hätte man seine eigenen Füße. Warum schrieb ich Dirs? Damit Du weißt, wie ich zu dem Leben stehe, das da draußen über die Steine stolpert, wie die arme Postkutsche, die von Liboch nach Dauba humpelt. Du mußt eben Mitleid und Geduld haben mit

Deinem Franz

Da ich sonst niemandem geschrieben habe, so wäre es mir unangenehm, wenn Du zu jemandem von meinen endlosen Briefen reden würdest. Du tust es nicht. -Wenn Du mir antworten willst, was gar lieb wäre, so kannst Du das noch eine Woche unter der alten Adresse, Liboch-Windischbauer, später Prag, Zeltnergasse Nr. 3.


Kritikus: Max Brod merkt zum Erstdruck an: "Einen großen Teil dieses ausführlichen Briefes (im Original zehn Seiten) habe ich weggelassen, weil er eine sehr unhöfliche, ja derbe Polemik gegen einen damaligen Prager Universitätsprofessor der Literaturgeschichte enthält, deren posthume Veröffentlichung gewiß nicht im Sinne Kafkas wäre. Für die Architektur des wie ein Kunstwerk aufgebauten Briefes ist es bedeutsam, dass der Bemerkung am Anfang (gegen den 'Kritikus', den allzu kritischen Geist, in dem der Freund seine Ferienreise macht) nach der Zwischenepisode, die besagten Professor 'erledigt', der Rat entspricht: 'So tue mit Deinem Kritikus'." (Franz Kafka, Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Max Brod, Prag 1937, S. 345)
Goethe-Nationalmuseum: Das zu einem Museum umgewandelte Wohnhaus Goethes in Weimar.
Germanistik: Max Brod: Kafka wollte zuerst Germanistik studieren, wandte sich dann mit Unbehagen ab und resignierte auf die damals in Prag, in seinem Kreise, übliche Art, indem er als "Brotstudium" Jus wählte. Zu seiner Enttäuschung hat der Professor für deutsche Literatur an der Prager deutschen Universität, August Sauer, viel beigetragen. Gegen ihn fand sich im gestrichenen Teil dieses Briefes eine heftige Polemik. Kafkas Plan, in München Germanistik weiter zu studieren, von dem hier die Rede ist, wurde nicht verwirklicht. (Franz Kafka, Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main 1958).
Kafka hatte sich bei Studienbeginn in der juristischen Fakultät der Karls-Universität eingeschreiben; er wechselte im Wintersemester 1901/02 zur philosophischen Fakultät und belegte im Sommersemester 1902 ausschließlich germanistische und kunstgeschichtliche Veranstaltungen, darunter: "Geschichte der älteren deutschen Literatur" bei Prof. Detter, "Geschichte der deutschen Literatur des Sturm und Drang", "Deutsche Stilübungen" und "Gerstenbergs Briefe" bei Prof. Sauer (nach "Absolutorium", Verzeichnis der vom Wintersemester 1901/02 bis zum Ende des Sommersemesters 1905 von Kafka besuchten Veranstaltungen, Archiv University Karlovy v Praze). Gegen August Sauer richtet sich - nach Brods Anmerkung (Franz Kafka, Tagebücher und Briefe. Hrsg. von Max Brod. Frankfurt am Main 1958, S. 496) - "im gestrichenen Teil dieses Briefes eine heftige Polemik". - Ab dem Wintersemester 1902/03 studierte Kafka wieder an der juristischen Fakultät.
Chotekschen Anlagen: Die an das Schloß Belvedere angrenzenden Parkanlagen waren eines der bevorzugten Ziele von Kafkas Spaziergängen, für ihn der schönste Ort in Prag (vgl. KKAT 732).
Wenn ich auf der Weinbergsmauer lag: Bezieht sich auf den ersten Teil von Kafkas Ferienaufenthalt in Liboch, den er wegen des Besuches seines Onkels aus Madrid unterbrochen hatte.
Onkel aus Madrid: Alfred Löwy (1852 bis 1923), ein Bruder von Julie Kafka, war Direktor der spanischen Eisenbahngesellschaft "Madrid a Cáceres" (vgl. hierzu Anthony Northey, 'Kafkas Mischpoche'. Berlin 1988, S. 31 ff.); wohl vor allem zu Familenbesuchen kam er regelmäßig nach Prag. Kafka hatte offenbar gehofft, der Onkel könnte ihm dabei behilflich sein, Alternativen zu einem Hochschulstudium zu finden.
München, studieren: Nach den negativen Erfahrungen mit der Prager Germanistik und mangels einer anderen Alternative wollte Kafka zum Wintersemester 1902/03 gemeinsam mit Paul Kisch das Germanistikstudium in München fortsetzen, wo sie ihr früherer Klassenkamerad Emild Utitz (1883-1956), "der dort bereits seit dem Sommersemester studierte, erwartete" (aus einem Brief Paul Kischs an Max Brod vom 26. August 1937. Sinn und Form. Beiträge zur Literatur. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Künste (Berlin). 40 (1988), H.4, S. 816).
Dauba: Etwa 21 km nördlich von Liboch gelegen, Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at