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[An Selma K[ohn]]
[4. September 1900; Dienstag]

[Eintragung in ein Album]

Wie viele Worte in dem Buche stehn!
Erinnern sollen sie! Als ob Worte erinnern könnten!
Denn Worte sind schlechte Bergsteiger und schlechte Bergmänner. Sie holen nicht die Schätze von den Bergeshöhn und nicht die von den Bergestiefen!
Aber es gibt ein lebendiges Gedenken, das über alles Erinnerungwerte sanft hinfuhr wie mit kosender Hand. Und wenn aus dieser Asche die Lohe aufsteigt, glühend und heiß, gewaltig und stark und Du hineinstarrst, wie vom magischen Zauber gebannt, dann ---
Aber in dieses keusche Gedenken, da kann man sich nicht hineinschreiben mit ungeschickter Hand und grobem Handwerkszeug, das kann man nur in diese weißen, anspruchslosen Blätter. Das that ich am 4. September 1900

Franz Kafka


K[ohn]: Max Brod schrieb als Herausgeber der Briefe:
"Frau Selma Robitschek sandte dem Herausgeber dieser Briefe spontan die Abschrift und später die Photokopie des Albumblattes aus London. Sie war so freundlich, dieses wohl früheste Dokument, das wir über Kafka besitzen, durch das folgende Begleitschreiben zu erläutern:
'Wer ich bin? Die Tochter des Oberpostmeisters Kohn aus Roztok bei Prag. Kennen Sie Roztok, den Wald? Erinnern Sie sich an den steilen Weg dahin und wie man plötzlich auf der herrlichsten Waldlichtung steht, das hohe Gras voll Himmelschlüssel, Marientränen, Glockenblumen und mitten darin eine sehr sehr alte Eiche! Unter dieser Eiche sind wir Kinder, Franz und ich, oft gesessen und er hat mir Nietzsche vorgelesen, was und ob ich es verstand, Dr. Brod, es liegen 55 Jahre dazwischen, wir haben uns gegenseitig angeschwärmt, wie man damals war, ich war schön und er war sehr klug und beide waren wir so himmlisch jung. Kafkas wohnten einen Sommer lang bei uns im I. Stock. Und unser Garten lief in einen hohen Berg aus. Oben stand eine Bank und des Abends gingen wir oftmals, Franz eine brennende Kerze in der Hand, zu dieser Bank - man sah so weit, das ganze Tal, das silberne Band der Moldau, am andern Ufer Klettau und Bruky beleuchtet und er wollte mich überreden, meinen Vorsatz zu studieren auszuführen. Aber es nützte nichts, mein Vater erlaubte es nicht - man hat damals den Vätern gefolgt - und so kamen wir auseinander.'"

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at