Im Frühjahr 2020 war Hefe zeitweise ein knappes Gut im Handel. Nicht etwa weil Not ausgebrochen war, sondern weil angesichts der coronabedingten Ausgangsbeschränkungen viele Österreicher*innen einen Hang zum Selberbacken entwickelten (oder aus anderen Gründen Hefe horteten). Auch in Wien im Jahr 1919 war Hefe (und waren andere Lebensmittel) schwer zu bekommen, allerdings aus schwerer wiegenden Gründen. In den Akten der Disziplinarkommission der Post (beim Staatsamt für Handel und Gewerbe, Industrie und Bauten) finden sich Fälle von Diebstählen, meist sehr geringe Mengen, die mit dieser Versorgungsknappheit in Verbindung stehen.

Die Sachverhaltsdarstellung in einem Disziplinarakt lautete folgendermaßen:

„Der Postamtsdiener Franz St[…] beim Postamte Wien 24 hatte in der Nacht vom 10. auf den 11. Jänner 1919 Frachten in den Wagen der Bahnpost Deutschbrod – Tetschen Nr. 106 zu verladen. Dem Postadjunkten Josef Bauer, der das Verladen zu überwachen hatte, fiel es auf, dass St[…] sich unnötig lange im Wagen der Bahnpost Nr. 106 aufhielt. Er untersuchte deshalb die Überrocktaschen dieses Dieners und fand in einer derselben ein Paket Presshefe ½ kg der Firma Mauthner in Wien III. Es wurden Erhebungen über die Herkunft des Paketes eingeleitet, bei denen im Wagen der erwähnten Bahnpost ein verschnürtes Paket, aufgegeben von der Firma Mauthner beim Postamte Wien 41 NR. 359 an Polly in Althart gefunden wurde, von denen 2 Pakete Hefe wie deren eines in der Tasche St[…]s vorgefunden worden war, fehlte.“

Str[…] bestritt zunächst, das Paket genommen zu haben, gab es aber später zu. Er wurde dafür gerichtlich zu 48 Stunden strengen Arrests, verschärft mit einem harten Lager verurteilt. Auf disziplinarrechtlicher Ebene wurde sein Vergehen mit der Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge für die Dauer von 2 Jahren geahndet. In der Begründung der Disziplinarkommission wurden drei erschwerende Umstände genannt: das ursprüngliche Leugnen der Tat, die gerichtliche Bestrafung und – man stelle sich vor! – dass er sich als Vertrauensmann der Post aufstellen lassen hatte. Als mildernde Umstände wurden seine angeblich „geringe Intelligenz“ und, nicht weiter verwunderlich, der geringe Wert des gestohlenen Guts.

Gegen dieses Urteil der Disziplinarkommission legte Franz St[…] Berufung ein, unter anderem mit dem Hinweis darauf, „er habe sich zu dieser Zeit in grosser Notlage befunden und habe um seiner Familie Nahrung zu schaffen und ihr die Herstellung von Brot zu ermöglichen, die Presshefe an sich genommen, da damals Hefe im Handel nicht zu bekommen war. Um die Stelle eines Vertrauensmannes habe er sich nicht selbst beworben, es hätten sich damit einige seiner Kollegen ohne sein Wissen einen Scherz gemacht.“ Er ersuchte um Milderung der Strafe.

Die Disziplinaroberkommission bei der Postsektion des Staatsamts für Verkehrswesen diskutierte die Berufung und befand, es könne „der Einwendung des Beschuldigten, dass er sich in einer Notlage befunden habe und die Hefe an sich genommen habe, um seiner Frau die Herstellung von Brot zu ermöglichen, nicht jede Glaubwürdigkeit abgesprochen werden, da tatsächlich Hefe zeitweilig im Handel nicht zu bekommen war und der Umstand, dass St[…] sich mit der Aneignung eines Paketes Hefe begnügte, für die Glaubwürdigkeit dieser Entschuldigung spricht.“ Dies und seine bisherige Straflosigkeit führten dazu, dass die Disziplinaroberkommission die in erster Instanz verfügte Strafe abmilderte und aus einer Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge ein Verweis gemacht wurde. Das ist im Spektrum der Disziplinarstrafen die mildeste Form, die wohl im Personalakt vermerkt wurde, aber zumindest keine finanziellen Nachteile mit sich brachte.

Die Akten der Disziplinaroberkommission des Staatsamts für Verkehrswesen/Ministeriums für Handel und Verkehr (Abteilung Post) der frühen Jahre der Ersten Republik enthalten zahlreiche Fälle wie diesen, in denen subalterne Postbedienstete Güter geringen Werts an sich nahmen, um ihre Notlage in der Nachkriegszeit zu lindern. Die Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge oder die Minderung des Diensteinkommens für eine bestimmte Zeit war eine übliche Strafe für dieses Dienstvergehen, die freilich die finanzielle Lage der betroffenen Personen noch schwieriger machte.

 

Quelle: AT-OeStA/AVA Handel Post PSb 312 Disziplinaroberkommission 1917 – 1921

Abbildung: Von Rainer Zenz – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=597239