DFG-Rundgespräch
„Methodische und konzeptionelle
Probleme der Gesellschaft-Umwelt-Forschung“
Protokoll
Organisation: Ute
Wardenga (Leipzig) in
Kooperation mit Peter Weichhart
(Wien)
Leibniz-Institut
für Länderkunde, Leipzig, 17.–18. 2. 2006
Protokoll: Ute
Wardenga und Peter
Weichhart in
Zusammenarbeit mit Bernd Adamek-Schyma,
Ulrich Ermann, Gerfried
Mandl und Friederike
Meyer
zu
Schwabedissen
Korrekturwünsche der Vortragenden bzw. Diskutanten sind gelb unterlegt.
Kommentare
können durch anklicken der Links geöffnet werden.
In Anknüpfung an
mehrere in den Jahren 2004 und 2005 durchgeführte Veranstaltungen
(DFG-Rundgespräch Bonn, November 2004; Tagung Wien, Juli 2005;
Sonderveranstaltung 55. Deutscher Geographentag Trier, Oktober 2005) war
es Aufgabe des Leipziger DFG-Rundgesprächs, das Paradigma der neueren
handlungstheoretischen Sozialgeographie auf seine Potenziale für die
Gesellschaft-Umwelt-Forschung zu prüfen. Dieses Paradigma kann zwar sehr
überzeugend die Entstehung und Veränderung physisch-materieller
Strukturen der Realität als Ergebnis menschlichen Handelns darstellen,
hat aber Schwierigkeiten, die Rückwirkungen der materiellen Welt auf
Akteure und soziale Strukturen konzeptionell zu fassen. Wie müsste
demnach die handlungstheoretische Sozialgeographie umgebaut werden, um
bei der Darstellung von Handlungssystemen auch nichtmenschliche
Wirkfaktoren berücksichtigen zu können? Das war die Kernfrage der
Veranstaltung. Welche Anregungen lassen sich hierzu in der
Akteurs-Netzwerktheorie (im Weiteren: ANT), in Arbeiten über
Multi-Agentensysteme und in der Techniksoziologie, in der Theorie der
Action Settings und in den sozialökologischen Interaktionsmodellen
finden? Welche Möglichkeiten einer Verschränkung naturalistischer und
konstruktivistischer Zugänge zur sozialen Welt lassen sich denken? Wie
kann man dabei Kausalwirkungen von Gegebenheiten der materiellen Welt
auf menschliche Akteure und gesellschaftliche Strukturen in nicht
deterministischer Weise fassen? Wie soll man mit der von Akteuren,
Agenten und Aktanten ausgehenden Kontingenz umgehen? Welche
Möglichkeiten zur Minderung von Kontingenzpotenzialen gibt es?
Themenblock 1:
Agenten und
Aktanten versus Akteure – wie lassen sich nicht-menschliche Wirkfaktoren
in die Handlungstheorie einbauen?
Nach den beiden
einführenden Referaten von Ute
Wardenga (Leipzig) und Peter
Weichhart (Wien), in denen
die Vorgeschichte des DFG-Rundgesprächs dargelegt, der
Forschungszusammenhang im Bereich der Geographie skizziert sowie die
Problemstellung und Zielsetzung des Rundgesprächs präzisiert wurde,
eröffnete Benno Werlen
(Jena) den ersten Themenblock der Veranstaltung mit einem Impulsreferat
über „Handeln als Strukturierung der Natur: Subjekt, Körper und Raum“.
Werlen ging dabei zunächst
von drei historischen Alternativen der Erklärung des Zusammenhanges von
Gesellschaft und Umwelt aus: der biologischen Ökologie (Haeckel),
der biologischen Sozialwissenschaft (Ratzel)
und der verstehenden Sozialwissenschaft (Weber).
In Haeckels Ökologie
hätten sich die Menschen den Naturgesetzen unterzuordnen, und Raum
fungiere als Selektionsinstanz des Lebens nach dem Prinzip Passung und
Nicht-Passung. Auch Ratzel
fasse in seiner Anthropogeographie Raum als Selektionsinstanz auf. Die
Rede vom Menschen werde dadurch naturalisiert, und die
Sozialwissenschaften würden biologisiert. Die
Webersche Konzeption habe
sich hingegen bewusst von diesen Naturalisierungen menschlicher
Gesellschaften abgesetzt und als Gegenposition eine verstehende
Sozialwissenschaft entworfen, bei der Handeln und subjektiv gemeinter
Sinn die Erklärungsfaktoren bildeten, Natur allerdings nur als „Daten,
mit denen zu rechnen sei“ verstanden und Akteure als körperlose Subjekte
interpretiert würden.
Als Alternative zu
dieser konzeptionellen Unvereinbarkeit von Mensch/Sinn/Gesellschaft auf
der einen und Körper/Natur/Umwelt auf der anderen Seite entwarf
Werlen eine Position, die
Körper als Teil der Natur und Natur als Teil der sozialen Reproduktion
sieht und davon ausgeht, dass durch gesellschaftliches Handeln
(symbolisch und gegenständlich) Natur strukturiert werde. Dabei müsse
jedoch von einer Vorherrschaft des „Handelns“ gegenüber dem „Raum“
ausgegangen werden. „Raum“ dürfe nicht als Passform oder Container für
das Soziale verstanden werden, sondern als handlungsabhängige und sozial
dimensionierte Kategorie. Derartige Raumkonstruktionen durch Handeln
ließen sich unterscheiden in Räume, die auf zweckrationale Handlungen
zurückzuführen seien (z.B. Bodenmarkt), auf normorientierte Handlungen
(z.B. Territorium) oder verständigungsorientierte Handlungen (z.B.
Wahrzeichen). Handeln sei als strukturierende Tätigkeit zugleich von
Strukturen begrenzt, die als Regeln und Ressourcen wirkten. Die
gesellschaftliche Strukturierung der Natur ließe sich als signifikative/symbolische,
autoritative/personale-körperliche oder allokative/physisch-materielle
Strukturierung begreifen.
Die Kompatibilität
von Handlungstheorie und ANT wurde von
Werlen skeptisch
eingeschätzt, da er zentrale Begriffe beider theoretischer Ansätze wie
Subjekte vs. Aktanten, Artefakte vs. Hybride, Aneignung vs. Reinigung,
Interaktionen vs. Netzwerke für unvereinbar hält.
Wolfgang
Zierhofer (Wettingen) trug
in seinem Impulsstatement „Umwelt und Sozialwissenschaft: ein Vorschlag
zur Differenzierung der Integrationsproblematik“ eine optimistischere
Einschätzung im Hinblick auf die Möglichkeit einer Integration von
nichtmenschlichen Akteuren/Aktanten in eine handlungstheoretisch
fundierte Gesellschaftstheorie vor. Allerdings warnte er davor, beim
Versuch einer Integration von „Umwelt“ in die Sozialwissenschaften bzw.
von Physischer Geographie und Humangeographie zu einfach verfasste
Lösungen zu unterstellen. Denn wenn man nunmehr wieder Körper und Geist,
Natur und Kultur zu integrieren suche, löse man Unterscheidungen auf,
die in einem Jahrhunderte dauernden Prozess erst mühsam (und mit guten
Gründen) in das abendländische Denken eingeführt worden seien.
Zeitgemäße Integrationsbemühungen müssten sich deshalb auch immer an
ihrer Kapazität messen lassen, die Gründe für die eingeführten
Unterscheidungen zu rekonstruieren, kritisch zu prüfen und in ihre
Argumentation mit einzubeziehen. Um verschiedene theoretische
„Integrationsangebote“ vergleichen zu können, schlug
Zierhofer auf Grundlage
subjektiver Erfahrung eine Differenzierung folgender Ebenen/Fragen vor:
(1) Erkenntnistheorie als Konstitution der Gegenstände des
(wissenschaftlichen) Denkens, (2) Theorie elementarer Aktivitäten und
Prozesse (z.B. Operationen eines Systems, Handlungen), (3) Theorie
aggregierter Phänomene (z.B. Organisationen, Gesellschaftstypen) und (4)
Methodik der Verarbeitung und Verwendung dieser drei konzeptionellen
Ebenen zur Rationalisierung einer Praxis (z.B. Problemanalysen,
Optionen, Gründe für Entscheidungen). Im Vergleich von ANT, Theorie
autopoietischer Systeme, Handlungstheorie (im weiteren Sinne) und
weiteren Integrationsangeboten (Historischer Materialismus,
Ökofeminismus etc.) zeigte
Zierhofer, dass es allen Angeboten mit Ausnahme der
handlungstheoretischen Gesellschaftstheorie an einer Methodik zur
Rationalisierung einer Praxis mangelt.
Darüber hinaus seien weder die ANT noch die Systemtheorie in der
Lage, Antworten auf „Warum-Fragen“ zu liefern, weshalb eine
handlungstheoretische Kategorisierung von Handlungen nach Kriterien wie
Situation, Ziel, Mittel, Folgen etc. unverzichtbar sei.
Werner
Rammert (Berlin)
behandelte in seinem Impulsstatement die Frage, inwiefern ein
Konzepttransfer von der Techniksoziologie zur Geographie möglich sei. Es
ging ihm dabei insbesondere um das Problem, ob sich Konzepte gestufter
Handlungsträgerschaften und verteilten Handelns in einem hybriden
Aktionszusammenhang auf die Gesellschaft-Umwelt-Forschung übertragen
lassen. Gegenstand dieser Problematik sei eine Verbindung von Stoffen,
Energien und Informationen aus naturwissenschaftlicher Sicht und von
Natur, Technik und Gesellschaft aus sozialwissenschaftlicher Sicht mit
Wirkungen, Operationen und Handlungen. Als Theorien zur konzeptionellen
Verknüpfung von naturalen, technischen, sozialen und humanen Dimensionen
kämen Determinismus, Sozialkonstruktivismus und ANT in Frage. Gegenüber
einer allzu optimistischen Einschätzung der durch den
Sozialkonstruktivismus erbrachten Erkenntnisfortschritte forderte
Rammert eine Anknüpfung an
pragmatische Ansätze, wie sie etwa bei
Joas (Kreativität des
Handelns) und bei Mead
(Symbolischer Interaktionismus) gegeben seien. Die gängige
Unterscheidung zwischen Intersubjektivität als sinnhaft gesteuerte
Interaktion zwischen Menschen einerseits und Interobjektivität als
kausal gesteuerte Interaktion zwischen Objekten andererseits beruhe auf
zwei mächtigen Illusionen: zum einen in Bezug auf die Handlungsautonomie
des Menschen und zum anderen in Bezug auf die Determiniertheit
technischer Objekte und natürlicher Dinge. So täusche sich z.B. die
Soziologie immer noch über die Genese und die Grade möglicher
Handlungsautonomie, wenn sie die Beziehungen zu Objekten und die
Materialität der Rahmungen ausblende. Eine weitere Täuschung bestehe
darin, dass man bei der Analyse der Intersubjektivität meine, ohne Bezug
auf dinghafte Objekte auszukommen, weil man damit befürchte, die
menschliche Handlungsfreiheit einem Materialismus oder Determinismus zu
opfern. Umgekehrt könne die Perspektive nicht mehr aufrechterhalten
werden, Objekte als frei von subjektiver Wahrnehmung, menschlicher
Intervention und sozialer Referenz als in sich ruhende Systeme von
Kräften zu betrachten. Demgegenüber müsse eine nichtdualistische
Auffassung entwickelt werden, die die klassischen Grenzziehungen und
ihre Durchkreuzungen nicht mehr als selbstverständlich voraussetze,
sondern diese selbst zum Gegenstand der Untersuchung mache. Hier könne
man von der Hybridperspektive der ANT lernen. Allerdings müsse man sehr
genau sehen, dass der Latoursche
Ansatz zwei erhebliche Schwächen aufweise: erstens würden Aktanten
semiotisch definiert und zweitens interessiere sich der Ansatz nur für
die Struktur von Beziehungen und Einbindungen, nicht aber für
Interaktionen und Interaktivitäten, mit denen sie produziert und
verändert würden. In Weiterführung der
Latourschen Perspektive
plädierte Rammert deshalb dafür, in Zukunft Prozessen der Verteilung und
Verflechtung stärkere Aufmerksamkeit zu widmen, und erläuterte seinen
Vorschlag eines von Agency geprägten gradualistischen
Handlungskonzeptes, bei dem er die Ebenen „intentionale Erklärung“,
„auch anders handeln können“ und „veränderte Wirksamkeit“ (von
kurzzeitiger Störung bis zur dauerhaften Umstrukturierung von
Handlungszusammenhängen) unterschied.
Ausgangspunkt der
von Florian Keil
(Frankfurt/Main) präsentierten Überlegungen bildete die Frage nach
Methoden, mit denen sich Handlungstheorien „modellieren“ lassen, ohne
dabei eine Konzeptionalisierung der Natur-Gesellschaft-Differenz
vorwegzunehmen. Als (eine) Antwort schlug
Keil agenten-basierte
Modelle (ABM) als eine softwarebasierte Methode vor, die allerdings
nicht den Anspruch erhebe, ein Instrument der Theoriebildung zu sein.
Die Mikroeinheit solcher Modelle bilde ein „Agent“ als autonome,
zielorientierte und regelbasierte Softwareeinheit, die sich sowohl durch
Reaktivität als auch durch Proaktivität auszeichnet. Attribute, die mit
derartigen Agenten modelliert werden können, seien unter anderem „Wissen
und Glauben“ (über die Umwelt des Agenten), Informationsverarbeitung
(„Schlussfolgerungen“) und Zielplanung.
Die Herausforderung bestehe in einer Modellierung des kognitiven
Apparats von Agenten. Dabei steht die Einbinung komplexer Handlungs- und
Verhaltenstheorien in der ABM-Forschung erst am Anfang. Eine häufig
zitierte Gefahr bei ABM ist die Ausbildung eines (impliziten)
methodologischen Individualismus durch den Bezug auf Individuen als
Basiseinheiten des Modells: Soziale Strukturen können als emergente
Phänomene aus den Interaktionen von Individuen hervorgehen, umgekehrt
aber das Verhalten der Individuen nicht beeinflussen. Die modellierten
Handlungen gingen ausschließlich auf „eingebaute“ Aktivitäten der
Agenten und den individuellen Fähigkeiten der Agenten zurück, auf
bestimmte Umwelteinflüsse und Interaktionen mit bestimmten Aktivitäten
zu reagieren. Dennoch seien seien agentenbasierte Modelle in der Lage,
einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft-Umwelt-Forschung zu leisten.
Insbesondere für räumliche Phänomene sei eine Kopplung mit
Geographischen Informationssystemen eine viel versprechende Aufgabe.
Cordula
Kropp (München) zielte in
ihrem Impulsreferat darauf ab, die ANT als forschungsleitende
Perspektive zu verteidigen. Viele dieser Theorie gegenüber geäußerten
Kritikpunkte und Vorbehalte beruhen ihrer Ansicht nach auf
Missverständnissen oder falschen Erwartungen. Die Suche nach
integrativen Ansätzen sei wahrscheinlich auch deshalb so schwer, weil
Ansätze zur Überwindung von Dichotomien in unseren Wissenschaften schwer
möglich seien, da das Wissenschaftsverständnis und die
wissenschaftlichen Disziplinen auf diesen Dichotomien beruhten und ohne
sie kaum denkbar seien. Die ANT, wie sie um Bruno
Latour in Paris entwickelt
und in Deutschland schon früh durch Bernward
Jörges aufgegriffen wurde,
sei ein Versuch, diese traditionellen Dichotomien zu durchbrechen.
Grundlagen der
ANT-Perspektive seien – in Rückgriff auf
de Saussure – die
fundamentale Betonung von Relationalität sowie der Prozesshaftigkeit,
wie sie Latour z.B. bei
seiner Darstellung der „Pasteurisierung von Frankreich“ entwickelt habe.
ANT sei kein Gesamtsystem, kein Metabolismus, sondern betone stets
Kontexte und Aushandlungsprozesse, im Rahmen derer Netzwerke produziert
und reproduziert würden. Kropp
erläuterte diese Perspektive anhand eines eigenen Projektbeispiels („Von
der Agrarwende zur Konsumwende? Eine Untersuchung der Effekte der
Agrarwende für die Verbreitung nachhaltiger Konsummuster entlang der
Akteurskette vom Produzenten bis zum Konsumenten“) der Münchner
Projektgruppe für Sozialforschung, nämlich dem Absatz von ökologisch
produzierter Milch. Betrachtet man das Produkt „Milch“ als
Akteur-Netzwerk, so seien weder Milch Milch noch Molkereien Molkereien,
noch könne man einzelne Akteure im Netzwerk der Produktion und des
Konsums von Milch eindeutig und klar definieren. Vielmehr stellten sich
Bestandteile und Einflussfaktoren als relationale Elemente dar.
Definition, Fabrikation und Vermarktung von Biomilch, Rohmilch,
pasteurisierter Milch oder H-Milch ließen sich als Hybride verstehen,
die weit mehr als ein schlichtes Produkt umfassten.
Ausgehend vom
Dualismus sozialkonstruktivistischer Zugänge einerseits und
naturdeterministischer Zugänge andererseits sowie dem Monismus der ANT,
erwähnte Karl-Werner Brand
(München) in seinem Impulsreferat zunächst interaktionistische,
koevolutionäre Zugänge, die zwischen dualistischen und monistischen
Konzepten angesiedelt seien. Dazu zähle die „Soziale Ökologie“, die
allerdings den Nachteil habe, Natur- und Kultursysteme nur lose
gekoppelt und ziemlich statisch zu betrachten, sowie die Perspektive der
„sozial-ökologischen Forschung“ des ISOE, die aber keinen eigenständigen
konzeptionellen Ansatz zur Interpretation des komplexen
Vermittlungsverhältnisses von stofflich-energetischen und symbolischen
Dimensionen in den jeweiligen Regulationsmustern biete und ihre
quasi-anthropologische Verankerung allein im Konzept der
Grundbedürfnisse habe.
Brand
stellte ausführlicher die Konzeption der ANT nach
Latour als radikalen Bruch
mit dem Dualismus und der Dichotomie von Subjekt und Objekt dar, ohne
seine eigenen Schwierigkeiten mit diesem Konzept zu verschweigen. Der
radikale Relationismus der ANT verstehe Handeln als „die Fähigkeit der
Verbindung von Aktanten“. Im Unterschied zu traditionalen Gesellschaften
dehnten moderne Gesellschaften Handlungsketten immer weiter aus, so dass
Übersetzungs- und Vermittlungsleistungen, wie sie von ANT thematisiert
würden, einen immer höheren Stellenwert einnehmen. Nach dem
ethnomethodologischen Gesellschaftsverständnis und Forschungsprinzip der
ANT werde Wirklichkeit und soziale Ordnung nur lokal und situativ
erzeugt und stabilisiert. Regeln und Normen existierten daher nur in
zeitlich gebundenen Netzwerken und lokalen Interaktionen. Die Existenz
und Dauerhaftigkeit makrosozialer Ordnungsstrukturen gehe auf die
Einbindung nichtmenschlicher Aktanten bzw. auf technische Vermittlungen
in lokalen Interaktionen zurück. Als Nachteile dieses Ansatzes führte
Brand auf, dass bei der
Fokussierung auf die Fabrikation des gesellschaftlich-technischen
Gewebes viele Aspekte und Formen des Naturbezugs ausgeblendet würden. So
werde die Debatte über „angemessene Formen gesellschaftlicher
Naturbeziehungen“ auf das (erst noch zu schaffende) „Parlament der
Dinge“ delegiert. Die extreme Fokussierung auf die Sichtweise, dass sich
Subjekt und Objekt nicht dualistisch gegenüberstehen, sondern Elemente
in einem kollektiven Ko-Fabrikationsprozess seien, verdränge zudem die
Aufmerksamkeit für die Besonderheiten der involvierten Aktanten (z.B.
menschliche Reflexivität). Die strikte Ausblendung der Makroebene
erachtete Brand als
reduktionistisch im Hinblick auf eine nachhaltige Gestaltung
gesellschaftlicher Naturbeziehungen. Das ANT-Prinzip der Nachverfolgung
von Übersetzungen, Rekrutierungen, Kreuzungen und Verschiebungen entlang
von Netzwerkbeziehungen gerate sehr schnell in einen unendlichen
Regress, so dass unklar bleibe, wie eine forschungspragmatische
Begrenzung von komplexen Handlungsketten und Vernetzungen erfolgen soll.
Aus diesem Grund seien wohl auch die meisten Beispiele der ANT „schön
klein und handlich“ (z.B. Schlüsselanhänger, Straßenschwelle). Für die
Analyse von Transformationsprozessen auf der Meso- und Makroebene
bedürfe es daher anderer methodischer Verfahren und Konzepte, freilich
ohne die Einsichten der ANT preiszugeben.
Diskussion des
ersten Themenblocks
Der erste Teil der
sehr lebhaften Diskussion drehte sich zunächst um Konkretisierungen und
Erläuterungen im Hinblick auf den Stellenwert der Handlungstheorie im
Rahmen der Sozialgeographie. Gerhard
Schurz (Düsseldorf)
kritisierte die Handlungstheorie als individualistisch und konstatierte,
dass sie nur für kleinere soziale Bereiche, also Mikrostrukturen,
funktioniere. Es fehle an einer Verbindung zur Makrostruktur und deshalb
sei Vorsicht bei der Behauptung angebracht, dass Handlungen Strukturen
erzeugten. Karl-Werner Brand
monierte, dass es der Handlungstheorie an Eigenständigkeit in Bezug auf
den „naturalen“ Teil fehle bzw. dieser nur in rein soziologischen
Kategorien thematisiert würde und damit ein gewisser Widerspruch zur
vorgeblichen Verbindungsleistung der Handlungstheorie bestehe. Nach
einer kurzen Skizzierung der wissenschaftshistorischen Rolle der
Handlungstheorie im Zusammenhang mit einer Modernisierung der
Sozialgeographie und einer stärkeren Fokussierung des Faches auf
sozialwissenschaftliche Fragestellungen (Benno
Werlen, Peter
Weichhart, Ute
Wardenga ) verteidigte
Benno Werlen das Konzept
gegen den Vorwurf eines ontologischen Individualismus. Nicht Subjekte
seien Gegenstand der Untersuchung, sondern Handlungen. Er betonte, dass
Handlungen einerseits Strukturen bilden könnten, andererseits aber auch
strukturiert seien. Wolfgang
Zierhofer (Wettingen) erläuterte, dass die Sinneinheit des Tuns
in der Handlungstheorie dieselbe Funktion habe wie das Netzwerk in der
ANT. Handlung sei deshalb für Geographen interessant, weil sie das alte
Thema der Geographie aufnehme, nämlich menschliche Tätigkeiten in einer
physischen Welt unter sozialen Rahmenbedingungen zu erfassen. Im
Unterschied zur ANT biete die Handlungstheorie jedoch eine in sich
kohärente und systematisch aufgebaute Begrifflichkeit, mit der man
arbeiten könne, und sie bemühe sich, Fragen nach dem „Warum“ zu
beantworten. Dies leiste die ANT nicht, da
Latour (ebenso wenig wie
Luhmann) keine
Methodologie sozialwissenschaftlicher Erklärungen formuliert habe.
Ein weiterer Teil
der Diskussion beschäftigte sich mit dem Begriff des Raumes. Hier
zeigten sich zunächst deutliche Differenzen: Während viele der
anwesenden Soziologen „Raum“ vornehmlich als physisch-materielle
Struktur fassten und die Analyse der Einflüsse von „Raum“ auf Handlungen
und soziale Prozesse für eine genuin sozialgeographische Fragestellung
hielten, plädierten die anwesenden Geographen dafür, „Raum“ als
theoretischen Begriff zu fassen und zu analysieren, welche Bedeutung die
Konstruktion von Räumen für die Konstruktion gesellschaftlicher
Wirklichkeit inklusive der Rückwirkungen von Gesellschaften auf Räume
spiele. Egon Becker
(Frankfurt/Main) regte an, sich in Zukunft von der irreleitenden
„Brückenmetapher“ zu verabschieden. Kennzeichnend für die gegenwärtige
Situation der Gesellschaft-Umwelt-Forschung sei, dass grundlegende
Begriffe (wie z.B. Population) umgearbeitet und für neue Bedeutungen
geöffnet werden. Das müsse auch mit dem Begriff des Raumes geschehen.
Wenn man „Raum“ als Basisbegriff für gemeinsame Aktivitäten von Sozial-
und Naturwissenschaftlern nutzen wolle, müsse man den Begriff erst
umstrukturieren und zwar, wie
Becker vorschlug, in streng konstruktivistischer, an Einstein
anknüpfender Perspektive. Allerdings müsse man sich hierbei im Klaren
sein, dass man je nach Begriffshorizont neue Ein- und Ausgrenzungen
vornehme, die mit zu bedenken seien. Infolgedessen gehe es zunächst um
ein „Metaphernmanagement“ (Christoph
Lau, Augsburg).
Einige der
Anwesenden wandten sich strikt gegen ein solches Verfahren. So gab
Christoph Görg (Leipzig)
zu bedenken, dass sich eine Umarbeitung grundlegender Begriffe in der
interdisziplinären Forschungspraxis als kaum umsetzbar erweisen könnte.
Seiner Meinung nach sollten gemeinsame Forschungsprojekte zunächst die
wechselseitigen Erwartungen abklären, die jeweilige Praxis reflektieren
und am gemeinsamen Problemverständnis arbeiten bzw. klare Schnittstellen
definieren, die man dann durchaus getrennt angehen könne (Karl-Heinz
Simon, Kassel).
Ein weiterer Teil
der Diskussion behandelte die Rolle von Modellen. Egon
Becker und Werner
Rammert verdeutlichten,
dass sich im Unterschied zu Theorien Modelle in der Vergangenheit als
starke Integrationsmittel erwiesen hätten. Denn im Wesentlichen fände
die wechselseitige Auseinandersetzung nicht auf der Ebene von Theorien,
sondern auf der Ebene von theoriebasierten Modellen statt. Über Modelle
könne man miteinander diskutieren, man könne sie einander zeigen,
Implikationen ausloten und damit das beleuchten, was man selbst nicht an
ihnen begreife. Rammert
plädierte in diesem Zusammenhang für Pragmatismus: Es gehe darum,
zunächst auszuprobieren, zu variieren, zu experimentieren und sich dann
festzulegen und Regeln zu erarbeiten. Modelle seien insofern gesehen
theorieneutral und lokalalgorithmisch (Gerhard
Schurz). Allerdings wurde
eingeräumt, dass es unterschiedliche Modellbegriffe gäbe (Peter
Weichhart) und
Theoriediskussionen auch dazu dienen könnten, um einen
verständigungsorientierten Konsens zu erzeugen (Christoph
Lau, Christoph
Görg).
Themenblock 2:
Gesellschaftsmodelle der Mensch-Umwelt-Forschung
Der nach der
ausführlichen Diskussion auf den nächsten Tag verschobene zweite
Themenblock der Veranstaltung behandelte „Gesellschaftsmodelle in der
Mensch-Umwelt-Forschung“.
Im Mittelpunkt des
ersten Impulsstatements von Egon
Becker (Frankfurt/Main)stand die Frage, wie sich Modelle als „boundary
objects“ anbieten können. Hierzu bezog sich der Referent zunächst auf
das im Rahmen der Grundkonzeption des Wissenschaftlichen Beirats zur
Global Change-Forschung des BMBF verwendete Modell. Ziel
dieses Modells war die Entwicklung einer Förderstrategie, wobei die
Beziehungen zwischen Natur- und Anthroposphäre so dargestellt wurden,
dass „die Anthroposhäre aus dem Erdsystem herausgeklappt [wird],
ohne die verbindenden Fäden zu zerschneiden“. Während der Bereich
„Natur“ zeichnerisch/malerisch illustriert wurde, blieb es im Bereich
„Gesellschaft“ bei einer schematischen Darstellung.
Becker zeigte, dass sich
die einmal gewählte Unterscheidung Anthroposphäre/Natursphäre
(Gesellschaft vs. Natur) wegen der getroffenen semantischen Differenz
nicht mehr durchbrechen lässt. Zwar werden die metabolischen
Verflechtungen der Bereiche durch verbindende Fäden dargestellt, so dass
der Eindruck eines Netzes entsteht, das man mit mathematischen Mitteln
behandeln kann. Die Begrifflichkeit des Metabolismus verweist aber
vielmehr auf eine organizistische Metapher, so dass das Modell als
klassisches Beispiel für vorausgegangene intuitive Unterscheidungen
gelten kann, mit Hilfe derer institutionenbezogene Zergliederungen
vorgenommen und dadurch verstärkt werden. Im Unterschied hierzu
plädierte Becker für ein
Verfahren, das zunächst die Unterscheidung an sich reflektiert, dann die
Bezeichnung des Unterschiedenen thematisiert und in einem dritten
Schritt eine Untergliederung entwickelt, die nicht nach institutionellen
Kriterien erfolgen soll, sondern anhand materiell-symbolischer Komplexe.
Die Beziehungen würden so zum eigentlichen Gegenstand; zugleich werde
das eigene Verfahren reflektiert.
Als nächstes
diskutierte Becker das
Modell „Structure of the Human Condition as System” aus „The Human
Condition“ von Talcott Parsons,
das ein funktionalistisches System der Gesellschaft darstellt. Mit Hilfe
des Modells suchte Parsons
die Frage zu beantworten, wie soziale Ordnung und Integration möglich
ist. Hierzu benutzte er zwar die Unterscheidung Natur/Gesellschaft,
blieb aber (wegen des AGIL-Schemas) strikt theorieorientiert. Eine
zentrale Anforderung an Gesellschaftsmodelle im Rahmen der
Gesellschaft-Umwelt-Forschung besteht nach
Becker infolgedessen
darin, adaptive Funktionen zu berücksichtigen. Er empfahl die
Entwicklung von zweistufigen Modellen (klassisch-historische Beispiele:
Marx (Basis – Überbau) und
Habermas (Lebenswelt –
System; Handlung – Struktur), räumte jedoch ein, dass derartige Modelle
bisher nur ganz allgemein ausgearbeitet sind.
Christoph
Görg (Leipzig) behandelte
die Frage nach den Natur-Verhältnissen in der Weltgesellschaft und
plädierte dafür, das Verhältnis von Mensch und Natur als ein
Vermittlungsverhältnis zu verstehen. Dabei ging er
von einer gesellschaftlichen Konstruktion von Natur aus, deren zentrales
Unterscheidungskriterium von Umwelt/Natur weniger in der Materialität
von Wirkfaktoren liege, als vielmehr in der „Natürlichkeit“.
Hauptproblem sei die Frage nach Grenzen der Konstruktion; mithin müsse
also die kritische Reflexion der Konstruktionsprozesse im Mittelpunkt
der Analysen stehen. Der von Görg
verwendete Zentralbegriff ist der (in der Geographie äußerst
umstrittene) Begriff der Landschaft. Für
Görg sind Landschaften
maßgeblich unter dem Aspekt der kulturell-ästhetischen Wahrnehmung
konstruierte, gleichwohl jedoch durch funktionale Zusammenhänge im
Stoffkreislauf konstituierte und darüber hinaus durch praktische
Gestaltung (Landwirtschaft, Siedlungen, Verkehr) geprägte Einheiten.
Görg plädierte dafür, den
Landschaftsbegriff (wieder) als Brückenbegriff sowohl für die
integrative Behandlung von Mensch-Umweltproblemen einzusetzen, als auch
als Verbindungsinstanz zwischen Experten- und Laienwissen. Allerdings
entstehe, wie Görg
einräumte, im Rahmen der Globalisierung ein „Raum“-Problem, da ungeklärt
sei, welche räumlichen Dimensionen durch das Zusammentreffen von
globalen und lokalen Prozessen vor Ort eigentlich „die“ Gesellschaft(en)
hätten. Problematisch werde dies beispielsweise bei der Einschätzung von
ökologischen Prozessen aufgrund der beteiligten, auf verschiedenen
Ebenen agierenden und aus heterogenen kulturellen Zusammenhängen
stammenden Akteure. Dadurch entstehe eine komplexe
Vermittlungssituation, die sich auf Bewertungs- und Entscheidungsfragen
beziehe, überdies seien die damit einhergehenden Konstruktionsprozesse
von Unsicherheiten geprägt. Es gebe keine technische Kontrolle, kognitiv
seien keine sicheren Voraussagen möglich; mithin seien die gefällten
Entscheidungen stets umkämpft. Da die Kausalwirkungen der
physisch-materiellen Welt nur schwer zu fassen und auch immer durch
„Interpretationen“ (Handlungen) vermittelt seien, müssten als
Ausgangspunkt für weiteres Arbeiten die (Selbst-)Kritiken von
symbolisch-sprachlichen und ökonomisch-technischen
Konstruktionsprozessen eingeführt und die Modellierung des Verhältnisses
von Gesellschaft, Individuum und Natur durch theoretische Konstruktionen
begleitet werden.
Im dritten
Impulsstatement stellte Christoph
Lau (Augsburg) das Teilprojekt A2 des SFB 536 „Reflexive
Modernisierung: Vergesellschaftung von Natur und Naturalisierung von
Gesellschaft“ vor. Im Mittelpunkt des Projekts standen Grenzdefinitionen
von Natur und Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Konflikte.
Lau zeigte, dass die
Ziehung einer eindeutigen Grenze zwischen Natur und Gesellschaft derzeit
immer schwieriger wird und die daraus resultierenden
Entscheidungskonflikte in wachsendem Maße kontrovers geführt und
politisch aufgeladen werden. Wissenschaftliche Begründungen reichten
nicht mehr aus, Grenzziehungen seien nicht mehr mit allen Mitteln
möglich und infolgedessen rücke die Frage danach, was Grenzziehungen
zwischen Natur und Gesellschaft eigentlich bedeuteten und welche
Funktionen sie hätten, mehr und mehr in den Fokus der Forschung. Die
funktionale Begründung solcher Abgrenzungen liege zunächst in der (im
Wesentlichen durch die moderne Wissenschaft vorangetriebenen)
Unterteilung der Wirklichkeit in zwei Bereiche: erstens in einen
Bereich, der als „Natur“ der menschlichen Verantwortung und Legitimation
weitgehend entzogen sei, und zweitens in einen Bereich, der als
„Gesellschaft“ in der Verantwortung von Menschen liege. Dadurch werde
„Natur“ als neutrale Ressourcensphäre definiert, die zur Ausbeutung nach
Maßstäben technischer und ökonomischer Rationalitäten zugunsten der
Gesellschaft unterworfen werden könne. Gleichzeitig bestimmten
Naturabgrenzungen die Außengrenzen von sozialem Handeln in
institutionellen Kontexten; mithin habe Natur die Funktion einer
Handlungsentlastung. Lau
illustrierte, wie durch die Auflösung herkömmlicher Grenzen von Natur
und Gesellschaft Institutionen in Entscheidungs- und
Verantwortungskrisen geraten, weil unklar geworden ist, wie neue
Grenzziehungen geschaffen werden könnten. Als Lösungsverfahren schlug er
ein reflexives Boundary Management vor, das – auch unter
Zulassung einzelner Hybridbereiche – reflexive Grenzziehungen bzw. eine
Pluralisierung von Grenzen ermögliche. Dieses Verfahren empfahl er auch
für eine Neukonfigurierung der Mensch-Umwelt-Forschung innerhalb der
Geographie.
Im vierten
Impulsstatement berichtete Wilhelm
Viehöver (Augsburg) über
ein Projekt, das an den Fallbeispielen Klima, Doping im Leistungssport,
Stammzellenforschung und Genfood neue Grenzziehungen von
Gesellschaft/Natur analysiert hat. Grenzen, so
Viehöver, besäßen eine
gewissen Arbitrarität, seien weder ontologisch noch transzendental zu
begründen, weil drei wesentliche Fiktionen der Moderne problematisch
geworden seien: die Objektivitätsfunktion, die Konsensfiktion und die
Souveränitätsfunktion. Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft könnten
heute zwar nicht mehr in naturdeterministischer Form gezogen werden,
dennoch bestehe aus funktionalistischen Gründen die Notwendigkeit zur
Grenzziehung, allerdings ließen sich Grenzziehungspraxen aufgrund von
Globalisierungs- und Transnationalisierungeffekten nicht mehr national
einhegen, wie auch die Wissenschaft nicht mehr als Garantin von
eindeutigen Grenzziehungen herangezogen werden könne.
Diskussion des
zweiten Themenblocks
In Bezug auf den
Vortrag von Egon Becker
hoben mehrere Geographen das von
Becker vorgestellte erste Modell als kennzeichnend für eine
mittlerweile, zumindest im Bereich der Humangeographie, überholte Form
segmentären Denkens hervor und illustrierten die einem solchen Modell
inhärenten Denkfallen. Man dürfe Anthroposphäre nicht mit Gesellschaft
gleichsetzen; ebenso sei noch stärker als bisher zu reflektieren, dass
„Raum“ offensichtlich immer dann relevant werde, wenn es um die
Unterscheidung von Natur und Gesellschaft gehe (Benno
Werlen; Andreas
Pott, Frankfurt/Main).
Andreas Daschkeit (Kiel)
betonte die Rolle der Verknüpfung von Theorie und Methode (Kommentar
SCHLOTTMANN) im Rahmen interdisziplinärer Forschungsprojekte und
hob (mit Verweis auf die Entwürfe von Tsunami-Frühwarnsystemen) die
Bedeutung von Begriffen wie beispielsweise „adaptive capacity“ hervor.
Von Seiten der Soziologie wurde nochmals eingehend die Wichtigkeit der
Analyse von Unterscheidungspraktiken hervorgehoben und die damit
einhergehende Ausformulierung einer Beobachtungstheorie, die sich über
die Differenzierung von Beobachtung und Wahrnehmung bewusst sein müsse.
Allerdings wurde eingeräumt, dass die Differenzierung von Raumkonzepten
in vielen sich mit der Gesellschaft-Umwelt-Problematik beschäftigenden
Projekten derzeit noch schwammig, wenn nicht sogar völlig ungeklärt sei
(Egon Becker, Karl-Werner
Brand).
Hinsichtlich des
Beitrags von Christoph Görg
wurde vor allem auf die „scale“-Begrifflichkeiten Bezug genommen und
bezweifelt, ob sich mit ihnen eine Möglichkeit ergibt, um soziale
Prozesse mit naturräumlichen Bedingungen zu verknüpfen (Andreas
Pott, Andreas
Daschkeit, Benno
Werlen, Christoph
Görg).
In Reaktion auf
die Vorträge von Christoph Lau
und Wilhelm Viehöver hob
Gerhard Schurz nochmals
die gegenwärtige Verschiebung der Natursemantik hervor und forderte, die
Unterscheidung des Naturbegriffes klarer nach deskriptiven Aspekten und
normativen Fragen zu differenzieren.
Lau betonte demgegenüber,
dass die Analyse der Grenzen von Natur und Gesellschaft und die Analyse
der Natursemantik als empirische Fragen zu betrachten seien, die
Differenzierung der Grenze gleichwohl eine Fiktion/Konstruktion bleibe,
die – worauf Peter Wehling
(Augsburg) verwies – allerdings durch Konsensfindung anerkannt werde.
Judith
Miggelbrink (Leipzig)
verwies auf die Rolle von Raumkonzepten im Rahmen soziologischer
Analysen und regte an, zu prüfen, ob etwa durch die massenmediale
Kommunikation Themen dann besonders plausibel gemacht werden könnten,
wenn sie als räumliche Probleme kommuniziert werden.
Themenblock 3: Kontingenz versus
„Ordnung im Alltagsgeschehen“
Den dritten
Themenblock „Kontingenz versus ‚Ordnung im Alltagsgeschehen’“ eröffnete
Gerhard Schurz
(Düsseldorf). In seinem Impulsstatement argumentierte er, dass die
allgemeine Evolutionstheorie in Form einer Theorie der kulturellen
Evolution eine Rahmentheorie für die Humangeographie darstellen könne.
Sie ermögliche die Erklärung, warum von subjektiven Entscheidungen und
intentionalen Handlungen geprägte Prozesse in Summe zu ungeplanten
Ergebnissen führten (z.B. zu geographischen Entitäten wie Landschaften).
Als Referenzquelle diente ihm in diesem Zusammenhang R.
Dawkins’ in Analogie zur
genetischen Selektion formuliertes Meme-Konzept. Meme sind anthropogene,
symbolisch kodierte Wissenseinheiten, die in kulturellen Prozessen wie
Gene in biologischen variiert und selektiert werden. Solche Prozesse
würden nicht chaotisch und ungeordnet verlaufen, sondern wiesen in der
Regel bestimmte Tendenzen auf und seien als nicht intendierte, nicht
geplante Vorgänge konzipiert (Beispiele dafür: technische Anwendungen,
die mit einer bestimmten Intention erfunden, in Folge aber ganz anders
genutzt werden; die Geschichte des Autos: vom Luxusartikel zur
Abhängigkeit; Zivilisationsprozesse und gesellschaftliche
Desintegrationsvorgänge). Intentionalität lasse sich durch ein
evolutionistisches Erklärungsmodell für Handlungen bzw.
Handlungskomplexe ergänzen. Nur evolutionäre Selektion mache
Objektivitäten, wie „Handlungen ohne Subjekt“, „Konstruktionen ohne
Subjekt“ oder die ungeplante Entwicklung sozialer Kommunikation,
erklärbar.
Im nächsten
Impulsstatement stellte Peter
Weichhart (Wien) eine der, wie er betonte, „bedeutendsten
umweltpsychologischen Theorien“ vor: R. G.
Barkers „Behavior
Setting“-Theorie. Mit ihr lasse sich begründen, wie im Alltagsgeschehen
die Ordnungsgröße Stabilität „mitproduziert“ werde. Dabei berücksichtige
sie den sozialen und materiellen Kontext, in welchem individuelle
Handlungsentscheidungen getroffen werden. Die originäre
Barkersche Theorie bedürfe
jedoch, um aktuellen sozialwissenschaftlichen Standards zu entsprechen,
einer „handlungstheoretischen Umformulierung“.
Weichhart regte daher an,
von „Action Settings“ zu sprechen. Kernaussage der Theorie sei, dass
Handlungen immer in einem lokalen Rahmen stattfinden, einem Action
Setting, das analytisch in drei Komponenten zerlegt werden könne. Es
weise mentale, soziale und materielle Aspekte auf, die im realen
Alltagsgeschehen in transaktionistischem Zusammenhang untrennbar
miteinander verbunden seien.
Weichhart strich heraus, dass dadurch die vom Gros der
sozialwissenschaftlichen Theorien vernachlässigte physische Umwelt
ebenso berücksichtigt würde wie der Umstand, dass Synchronisation und
Synchorisation von Handlungen immer in einem sozialen und zugleich
materiellen Kontext stattfinden. In diesem Zusammenhang wurde darauf
verwiesen, dass sich bei Barker
auch ein Fachbegriff für die intentionale Schaffung einer Passung von
Milieu und bestimmten Handlungsmustern finde (Synomorphie), und
präventiv ein potenzielles Missverständnis ausgeräumt: Die „Bühne“ (das
Milieu) dürfe nicht mit dem Action Setting an sich verwechselt werden.
Als ontologische Struktur existierten Action Settings nur im aktuellen
Handlungszusammenhang. Abschließend wurde gezeigt, welche
Anschlussmöglichkeiten für die Action Setting-Theorie bestehen: konkret,
wie sich das Action Setting-Konzept in ein Gesellschaft-Umwelt-Modell
aus dem Bereich der Sozialen Ökologie (IFK, M.
Fischer-Kowalski)
ergänzend einfügen lasse oder in A.
Giddens
Strukturationstheorie, weil die Produktion der Metastrukturen des
sozialen Systems in Action Settings stattfinde. Vor allem die Anbindung
an Modelle der Sozialen Ökologie ermögliche besonders gut, ein
Gesellschaftsverständnis, das die physisch-materiellen Aspekte
inkludiere, theoretisch zu konzipieren.
Das letzte
Impulsstatement der Tagung, das von Peter
Wehling (Augsburg)
vorgetragen wurde, behandelte das Thema „Risiko und Nichtwissen“ und
führte „von der Kontingenz zur Ordnung und wieder zurück“ – so der
Untertitel des Beitrags. Vorausgeschickt wurde, dass sich der
Risiko-Begriff nicht auf rein kontingente Prozesse beziehe. Risiko sei
als eine Art der Koordinierung bzw. Verortung von Kontingenz zu
begreifen. Die Beschäftigung mit dem Begriff „Risiko“ erfreue sich seit
den 1980er Jahren in den Sozialwissenschaften großer Beliebtheit
(Schlagwort: ‚Risikogesellschaft’). Paradoxerweise habe sich parallel
dazu eine Gegenströmung herausgebildet (etwa N.
Luhmann, B.
Wynne), die zur Vorsicht
beim Umgang mit dem Risiko-Begriff riet, weil er den Aspekt der
Kalkulierbarkeit, Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit nahe lege, der
in vielen Situationen aber nicht gegeben sei. Daher erhob man die
Forderung, neben den Handlungssituationen des Risikos
Handlungssituationen des Nichtwissens zu berücksichtigen. Alles was wir
über Risiken zu wissen glaubten, sei immer unter Vorbehalt dessen, was
wir nicht wissen, zu sehen.
Nichtwissen sei „embedded
within the risk, an uncertainty definition, not an extension in scale at
the same dimension” (B. Wynne).
Nichtwissen sei im Bereich des
wissenschaftlichen Wissens endemisch. Es lasse sich nur das erfassen,
was zuvor methodisch konzeptualisiert worden ist. Diese Auffassung, dass
Nichtwissen als in Wissen eingebettet zu verstehen sei, führe zu einem
„postkonstruktivistischen“ Wissensverständnis. Der Postkonstruktivismus
(der Begriff stammt von Joseph
Rouse) versuche die kognitivistische Verengung des
Wissensbegriffes zu umgehen und stelle eine Integration des Realismus in
den Konstruktivismus dar. Der Postkonstruktivismus untersuche
Wissensproduktion, eingebettet in Forschungspraktiken, wobei Praktiken
nicht nur als Handlungsmuster, sondern als in Situationen vollzogene
Tätigkeiten konzipiert würden. Er berücksichtige damit soziale,
materielle und diskursive Faktoren und inkorporiere sie – im Gegensatz
zur Wissenschaftsforschung eines David
Bloor, die generell
materielle durch soziale Faktoren zu ersetzen suche.
Diskussion des
dritten Themenblocks
In der Diskussion
wurde in Hinblick auf den Beitrag von Gerhard
Schurz angemerkt, dass ein
evolutionärer Ansatz Entwicklungslinien nur ex post erkennen
lasse (Egon Becker,
Karl-Heinz Simon). Egon
Becker verwies auf eine
mögliche Unvereinbarkeit der Evolutionstheorie und der Handlungstheorie,
weil die eine nur Aussagen über Populationen treffen könne, während die
andere das Individuum und seine Intentionen in den Vordergrund stelle.
Christoph Lau gab zu
bedenken, dass in der Organisationssoziologie zwar schon mit
Populationskonzepten gearbeitet worden ist, die Frage der Abgrenzbarkeit
aber als problematisch eingeschätzt werden müsste, da solche
Populationsabgrenzungen oft nur schwer operationalisierbar erscheinen
und in der Regel zudem relativ beliebig sind. Gerhard
Schurz stimmte zwar zu,
dass die Abgrenzung von Populationen schwierig sei, jedoch könne man
sich auf verschiedene Gegenstände der Selektion konzentrieren. Es könne
zum Beispiel die biologische Unterscheidung von Reprotypen und
Phänotypen metaphorisch auch auf den kulturellen Bereich übertragen
werden: das eine wären die Ideen in den Köpfen der Menschen, die
Phänotypen Produkte und die ihnen zugeordneten Nutzungspraktiken.
Die kulturelle und biologische Interaktion und die verschiedenen Formen
der Evolution seien untrennbar aneinander gekoppelte Prozesse. Der von
ihm gewählte Zugang sei dabei nicht nur als eine Naturalisierung der
Gesellschaftswissenschaften interpretierbar, sondern vice versa
komme er auch einer Sozialisierung der Naturwissenschaft gleich. Des
Weiteren widersprach er der Aussage, dass Entwicklungen nur ex post
erkennbar seien. Tendenzen seien abschätzbar und es gebe prinzipiell die
Möglichkeit, evolutionäre Prognosen anzustellen. Er betonte noch einmal,
dass der Rückgriff auf evolutionäre Erklärungen eine Erweiterung der
Handlungstheorie darstelle, weil sie eine Erklärung der iterativen
Stabilisierung kollektiver Handlungsstrukturen über viele Generationen
hinweg ermögliche. Dass die Handlungstheorie und Evolutionstheorie
kompatibel seien, wurde auch in zwei Stellungnahmen von Wolfgang
Zierhofer und Benno
Werlen hervorgehoben.
In Bezug auf Peter
Weichharts Ausführungen
ergab sich für Egon Becker
eine ähnliche Problematik wie in Hinblick auf das erste Referat. Auch
hier seien nur Populationen, nicht aber einzelne Menschen in das Modell
eingegangen. Es beschreibe nur „situative Systeme“ (N. Luhmann). Wie man
aber zu den Individuen und ihren Intentionen gelange, werde offen
gelassen. Von Karl-Werner Brand
wurde die Frage gestellt, wie die Action Settings im „Strom der
ständigen Vermittlung von Handlung und Struktur“ verortet seien. Gebe es
einzelne Inseln oder bestehe das gesellschaftliche Gesamtgefüge aus
Action Settings? Woher kämen die Aktionsprogramme? Wie sei ein
verselbstständigter struktureller Aspekt mit Aktionen in Verbindung zu
bringen? An diese Fragestellungen anschließend konstatierte Christoph
Görg, dass die Einbettung
der Action Settings in gesellschaftliche Prozesse unzureichend
erscheine. Wie werde dem Umstand, dass Action Settings ohne
übergeordnete gesellschaftliche Faktoren (Institutionen etc.) nicht
denkbar seien, Rechnung getragen?
In seiner
Stellungnahme merkte Peter
Weichhart an, dass viele offene Fragen angesprochen worden seien,
die noch einer Klärung bedürften. Wie Setting-Programme entstünden, sei
von R. G. Barker gar nicht
behandelt worden. Aber Erklärungen böten andere soziologische Theorien
wie z.B. die Lebensstilforschung. Es sei gerade eine der Stärken der
Action Setting-Theorie, dass sie solche theoretischen Anknüpfungen
erlaube. Prinzipiell müsse auch beachtet werden, dass alle
Handlungszusammenhänge, die nicht auf Kopräsenz aufbauten, nur schlecht
mit der Action Setting-Theorie erklärt werden könnten (Kommentar
Zierhofer). Der „Gesamtstrom gesellschaftlicher Prozesse“ lasse
sich eventuell als kontextualisiertes Gefüge von Makrosettings
interpretieren.
Fazit
Peter
Weichhart zeigte sich
prinzipiell erfreut, dass trotz „diffuser Vorgaben“ in der Diskussion
eine „dennoch erstaunliche inhaltliche
Koordination“ festzustellen gewesen sei (ähnlich Gerhard
Schurz und Cordula
Kropp). Daran anschließend
wurden die Fragen gestellt, ob eine Publikation der Tagungsergebnisse
und eine Nachfolgeveranstaltung ins Auge zu fassen seien. Alle folgenden
Wortmeldungen waren diesbezüglich positiv. Benno
Werlen hob hervor, dass
ein solches Projekt die Stellung der Sozialwissenschaften in der
Ökologie- bzw. Gesellschaft-Umwelt-Forschung stärke. Achim
Daschkeit gab zu bedenken,
dass, um weiter zu kommen, konkrete Fragestellungen zu entwickeln seien,
und auch Karl-Werner Brand
forderte für die Zukunft eine „zielgerichtete Diskussion.“ Eine
Bündelung und Konzentration auf zentrale Fragen sei notwendig, um
effektiv weiterarbeiten zu können. Von beiden wurde eine Art
Strategiepapier gefordert.
Einigkeit
herrschte in der Diskussion darüber, dass es darum gehe, jenseits von (geo-)deterministischen
Ansätzen eine eigene sozialwissenschaftliche Sprache zur Thematisierung
von Fragen der Gesellschaft-Umwelt-Forschung zu finden, um nicht als
bloßer Datenzulieferer nachgefragt zu werden. Dabei komme es weniger
darauf an, sich auf einen bestimmten theoretischen Ansatz zu einigen,
als vielmehr gemeinsame Ansatzpunkte für die Bearbeitung der anfallenden
Themen zu finden. Von mehreren Diskutanten wurde die Wichtigkeit betont,
über den Punkt des bloßen Anreißens von Problemlagen hinauszukommen, die
neu geschaffenen Kontakte zu intensivieren, den Diskurs inhaltlich
stärker zu fokussieren und zu versuchen, längere Zeit miteinander am
Problem (z.B. in Form eines weiteren Symposiums von mehreren Tagen) zu
arbeiten und strategische Allianzen zu entwickeln.