mahr´svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.2/Juli

Rezension

11. Pascal Dumont, Descartes et l'esthétique. L'art d'émerveiller, Paris: Presses unversitaires de France 1997. 274 S. FF 148. 19528 Zeichen.

Erst neuerdings rücken die Ursprünge der Ästhetik, soweit man der Idee eines neuzeitlichen, in Baumgarten verkörperten Gründungsakts folgt, in den Blickpunkt des Interesses. Was die Instauratoren der neuzeitlichen Philosophie im 17. Jahrhundert und besonders Descartes betrifft, war im Vorbewußtsein, daß er im Zuge der Errichtung des über den Zweifel zur Gewißheit gelangenden cogito die Empfindungen als trügerisch distanzierte; daß er die passions de l'âme in ethischer Perspektive nur am Rande an Beispielen der Kunst illustrierte; daß schließlich sein frühes Compendium musicae von 1618 einen speziellen Teil der Musiktheorie abgehandelt hatte und damit im Schatten des bedeutenderen Mersenne verblieben war. Die Wirkung der Konzeption ordnender Rationalität auf die Kunst nach seinem Tod ließ sich, genau besehen und gegen den Cartesianismus, nur indirekt am geometrischen Geist des französichen Gartens, der Regelpoetik eines Boileau oder den Vorschriften des Malermonarchen Le Brun ablesen. So ging der erste Essai sur l'esthétique de Descartes von Émile Krantz 1882 über einen Indizienbeweis der Ästhetik nicht hinaus. Ernst Cassirers Kapitel aus dessen Descartes-Buch war 1942 als "Descartes, Corneille et Christine de Suéde" gesondert erschienen und unbemerkt geblieben. Wer Ferdinand Alquié, den Descartes-Herausgeber und -Spezialisten für die Philosophie des 17. Jahrhunderts kannte, mochte sich wundern, daß er eine Philosophie du surréalisme veröffentlichte (1955). Und die einschlägigen Arbeiten von Geneviève Rodis-Lewis, 1993 in ihren Regards zur l'art erschienen, waren ohnehin nur den an der Philosophie des 17. Jahrhunderts Interessierten bekannt. Der Zustand solcher Punktualisierung hat sich in den letzten Jahren durch eine Reihe von Einzeluntersuchung geändert. Und in gewisser Weise schickt sich Pascal Dumont an, diese Veränderung zusammenzufassen.

Es wäre nun für das Buch kontrastiv aufschlußreich, die Gliederung des Inhaltsverzeichnisses mit derjenigen der Bibliographie und der des wertvollen Verzeichnisses der Werk- und Brief-Stellen genau zu vergleichen. Das Stellenverzeichnis geht nach den Headings Architektur, Stich, Musik, Malerei, Romanhaftes, Skulptur und Theater vor, während in der Bibliographie allgemeinen Titeln über Descartes jene zum Problem der Ästhetik bei Descartes folgen, zu Descartes und dem Problem der Ästhetik, zu den ästhetischen Lehrmeinungen des 17. Jahrhunderts, zu den Problemen in bezug auf die bildende Künste im und rund um das 17. Jahrhundert, zur Technik und zum Mechanismus bei Descartes, zu den Passionen und der Lebensführung bei Descartes beziehungsweise zur Großzügigkeit und zur Freiheit bei Descartes. Das Inhaltsverzeichnis gliedert in zwei Teile. TEIL EINS: "'Die Wissenschaft der Wunder'" beschäftigt sich mit I. der Illusion der affektiven Orientierungen: 1. Empfindung ist nicht Wahrnehmung; 2. Das sinnliche Spiel der Farben; 3. Der Traum und die Imagination; II. der Auflösung der Formen: 1. Die Chemiker der Renaissance; 2. Bedeutung der Kunst; 3. Geschaffene Formen; III. der technischen Künstlichkeit, dem Kunst-Werk <artifice>: 1. Kunst und Täuschung; 2. Die Adresse. TEIL ZWEI: "Von der Sorge ums Seins zur Sorge um sich selbst" befaßt sich mit I. Mechanismus und Affektivität: 1. Die Affektivität ist keine Lebensregel; 2. Betriebsamkeit als Adresse, die Passionen zu beherrschen; 3. Lebensfreude; II. der Bewunderung: 1. Eitle Bewunderung; 2. Gesunde Bewunderung; 3. Das entwirklichte Objekt; III. Heldentum und Großzügigkeit: 1. Die Vervollkommnung der Großen; 2. Heldentum mit menschlichem Antlitz.

Dumont suggeriert mit dem Stellenverzeichnis stillschweigend, daß die Ästhetik auf eine allgemeine Kunsttheorie ausgerichtet ist. Als solche wird sie aber erst ab Dubos 1733 und explizit seit Batteux 1746 entwickelt. Er hätte es aber nicht nötig gehabt, diesen Schein zu erzeugen. Geht es ihm doch klar um das Problem der Ästhetik bei und außerhalb von Descartes und einer Heranziehung der bildenden Künste (und des Theaters) im 17. Jahrhundert, um den Kreis schließlich um Technik und Mechanismus beziehungsweise die Passionen und die Lebensführung (Großzügigkeit, Freiheit) zu erweitern. Auch hier zeichnet sich ab, was das Buch bestimmt, nämlich die Wissenschaft der Wunder einerseits und die Sorge um sich selbst andererseits. Eine grundsätzliche Erörterung der Ästhetik folgt also der Wissenschaft der Wunder, wie sie im Mechanismus und in der Technik zum Ausdruck kommt und wie sie in der Lebensführung einen Gegenhalt bekommt. Fast möchte man meinen, daß nun der theoretischen Philosophie Descartes die praktische zuerstattet wird, die, besonders im deutschen Sprachraum, so oft verschwiegen wird.

Der Autor hatte sich zunächst der Musiktheorie Descartes zugewendet, in dem er sein Compendium musicae von 1618 übersetzte und herausgab. Sein Abrégé de musique erschien 1990 in Paris bei Méridiens-Kliencksieck. Dumonts nun vorliegende Abhandlung ist aber weit davon entfernt, nur eine Erweiterung der Musiktheorie zu sein. Im Gegenteil. Die Musiktheorie ist eines der vielen, in diesem Fall fast verschwindenden, Teilchen, die Dumont zusammengetragen hat. Keinesfalls ist sie zum Ausgangspunkt genommen worden. Es ist überraschenderweise viel mehr die bildende Kunst, die die zahlreichen Belegstücke und theoretischen Referenzen für "'Die Wissenschaft der Wunder'", dem ersten der beiden Teile liefert.

Dumont geht - im folgenden wird das analytische Inhaltsverzeichnis wiedergegeben, das als Abstract gelesen werden darf - gut neuzeitlich von der Illusion der affektiven Orientierungen (I.) zur Auflösung der Formen (II.), wie sie durch die technische Künstlichkeit bewerkstelligt wird (III.). Er folgt dabei den Wegen Descartes genau, für den die Empfindung nicht Wahrnehmung ist. Descartes hat der Spontaneität des Geschmacks jeden Wert abgesprochen. Der musikalische Geschmack ist die Wirkung eines Brauchs. Epistemisch heißt das: Diskontinuität der Affektivität gegenüber ihrem Objekt. Die Empfindung ist keine Präsenz in uns von den Sachen. Die Empfindung <sentiment>, wie sie an die Empfindung <sensation> geknüpft ist, resultiert aus einer Einrichtung <institution>. Damit hängt zusammen, daß die Sache und ihr Zeichen zwei heterogenen Ordnungen angehört. Descartes selbst hat den Reflex als Antwort auf eine Information, eine Sache, ignoriert. Er lehnt den Lebenswillen von Hobbes ab - im Traité de l'homme bleibt der Mensch im Sinne der "natürlichen Geometrie" ein Mechanismus. Die Empfindungsillusionen resultieren nun aus einem Spiel mit dem eingerichteten Mechanismus. Die Brillen etwa sind ein Stück, das auf die Maschine der Augen bezogen ist. Der Blick vermittelt nicht die Empfindungen <sentiments>, denn das Gesicht <visage> ist eine Maske. Somit kann die affektive Orientierung nur eine Quelle der Illusionen bilden. Die Bewunderung wird daher von Descartes kritisiert, und das Beispiel des Regenbogens kommt ihm da nur recht.

Doch ist das schon alles gewesen? Dumont kommt speziell auf das sinnliche Spiel der Farben bei Descartes zu sprechen. Die Theorie der Empfindungen, so sagt er, bezieht sich in erster Linie auf das Sehen. Wie illusionsanfällig auch immer dieses ist - , was die Farben anlangt, erlauben diese, sich auf dieEinheit von Seele und Körper ohne Urteilsübung zu verlassen. Descartes bleibt damit, so Dumont, der griechisch-lateinischen Tradition fremd, die die Farbe der Form unterordnet. Nun bezeichnet Descartes' Vom-Leder-ziehen gegen Michelangelo zugunsten des "flämischen Geschmacks", wie Dumont mit großer Kenntnis ausführt, die Opposition der zwei pikturalen Schulen im 17. Jahrhundert. So kommen die Revolution der Ölmalerei und die Bedeutung der Details bei den flämischen Primitiven zur Sprache, der Aufschwung des Stillebens von 1600 bis 1650, Rubens als Prinz der Farbe und die erotische Sinnlichkeit seiner Bilder. Die Farbe bei Rubens gilt Descartes als reines Spiel der Empfindungen - das Echo davon wird in der ersten Meditation aufgezeigt. Dagegen, so Dumont, markiert der Streit der Farbe 1671 nur das Vergessen der cartesischen Doktrin.

Doch Descartes' Traumargument nimmt nach Dumont nur negativ auf, was die Farbe positiv gezeigt hatte. Die Rolle des Discours ist hier, die gekünstelten und zufälligen Vorstellungen des Traums auch als zweifelhaft wiederzugeben: den Mechanismus der Geister <esprits> im Traum aufzuzeigen, die Haftung an Bildern als eitel, die Erscheinung eines Mysteriums als unmöglich zu enthüllen. Letzteres hängt mit der Wendung gegen die Renaissance zusammen. Der Mechanismus beendet, Dumont zufolge, die Tradition der unterirdischen Kräfte, wie sie noch bei Kircher in Erscheinung tritt. Der Künstler muß sich dagegen in einer vitalen Bewegung fundieren, um ein Werk schaffen zu können. Descartes wird damit zum Totengräber der alchemistischen Kosmogonie. Es ist die Physiognomie als ein Überleben (als ein Epiphänomen), auf das der Maler Le Brun die Geometrie anwendet. Die Kunst ist bei diesem eine Liturgie der Natur. Der Mechnismus könnte also mit den Doktrinen des élan vital, mit Hobbes übereinstimmen. Aber es geht nicht nur um die Malerei als Referenzkunst. Auch die Form der Städte scheint Descartes jegliche historische Bedeutung zu verunmöglichen. Auch hier lehnt er eine Verwurzelung im Vergangenen ab. Die Stadt ist ihm wie ein Traum (Amsterdam das Paradigma). Und zuletzt werden die unterirdischen Kräfte vom Genie der Sprache als dem letzten Zufluchtsort vertrieben.

Was ist nun die Bedeutung der Kunst, besonders die der Bildkunst? Die fortgesetzte Ablehung der unterirdischen Formen für die Zeichentheorie, also das Bild als ein Kryptogramm zu entziffern, wird von Descartes mit dem Vergleich mit dem Blindenstab und anderer optischer Prothesen gestärkt. Der Prospekt illustriert dagegen im folgenden die cartesische Idee. Informationen sind dort in transponierter Form konzentriert. Kein Wunder, daß es um die topographischen Darstellungen der Holländer geht, um Vermeer, den Meister dieser Landschaften. Mit dieser Ästhetik der Oberfläche weist Descartes, so Dumont, die Historienmalerei zurück, wie sie von Pascal verteidigt werden wird. Die nordische Kunst der Suprematie der Geographie über der Geschichte verstärkte die menschlichen Gesten damit zu räumlichen Dimensionen.

Der flämischen Kunst dagegen war es mehr um die Erfindung der Schrift als einer Schöpfung gegangen, wobei diese Idee der Schöpfung diejenige der Fruchtbarkeit unterstellt. Von dort empfängt das Werk Autonomie. Dieser Aspekt wird von Descarters verneint, sofern es um die Schöpfung von ewigen Wahrheiten geht. Durch die fortgesetzte Schöpfung existiert das Werk allerdings nur in seiner Abhängigkeit vom Schöpfer - der Konstruktionsprozeß ist Descartes wichtiger als die geleistete Sache. Das Werk verstärkt sich in modifizierbaren Parametern. Dumont gibt mit Descartes das Beispiel der Schimäre. Die Erfahrung ist dabei nicht die Wahrung einer fixen Form. Es geht vielmehr darum, eineForm im Prinzip des Funktionierens zu ergreifen, welches sie konstituiert. Das Werk ist nicht die Krönung einer Schöpfungsanstrengung, sondern eine Kombination von Elementen.

Mag die Kunst wie die Täuschungen allgemein in eitle Bilder oder Illusionen verfangen sein, so verhindert das nicht Descartes' Interesse an Automaten und optischen Spielen, wie sie seit der Renaissance entworfen werden. Der Automat von Descartes mechanisiert das Leben. Die Täuschung des Automaten ist derjenigen des Traums vergleichbar. Umgekehrt sind die optischen Täuschungen von der Art der Automaten. Der Künstler (genauer nach Edgar Zilsel: der Künstler-Ingenieur) ist gerade da erfolgreich, wo er sich vom Vitalismus abwendet. Descartes ist zudem ganz in die Diskussion verwickelt, die sich auf die Perspektive und ihre Deformationen bezieht. Hier holt Dumont aus und geht auf die Unterwerfung des Bilduniversums am Punkt der Flucht in die Albertische Perspektive ein oder die Erfindung der Linearperspektive, soweit sie einer alchemistischen Vision der Wissenschaft nahe ist. Länger verweilt der Autor bei der Anamorphose, der optischen Hexerei, die die Alten kennen und die spektakulär inszeniert wird, etwa bei Holbein. Ihre Entwicklung ist für das 17. Jahrhundert wichtig, und so wird auch Descartes in Beziehung zu den Theoretikern der Anamorphose erörtert. Hier läge allerdings die Frage nahe, inwiefern die Entwicklung dieser optischen Maschine erst nach 1800 zur Photographie mit einem technologischen Dispositiv zusammenhängt, das Descartes möglicherweise wesentlich mitgeprägt hat.

Der nächste Schritt in Dumonts stark konstruktiver Interpretation betrifft die Adresse. Es geht um den theoretisch-praktischen Bezug <rapport> der Werke. Ein Werk muß das Prinzip seiner Komposition mehr noch zeigen als die effektive Verwirklichung, die Descartes verachtet. Die Trägheit der Materie ist hier wesentliche Bedingung. Keine natürliche Kraft jenseits des trägen Gewichts! Leibniz' Kritik der cartesischen Bewegung setzt dagegen schon eine Virtualität in der Kraft voraus: das Machen eines Werkes besteht dort darin, das Lebensgeheimnis wiederzufinden - eine Gelegenheit für Dumont, die "potenzielle Literatur" von Raymond Queneau zu resituieren. Die Adresse ist weiterhin eine Verwaltung von Variablen. So manifestiert sie die individuelle Macht eines Ingeniums: Es ist die Markierung des Artifex über sein Werk. Das wird anhand von Apelles erläutert. Die Adresse ist der einzige Fall, wo das Zeichen der bezeichneten Sache ähnelt. Die Kunst manifestiert genau in diesem Punkt die freie Erfindung des Künstlers. Und der Automat ist die Illustration dieser Kunst. Anders gesagt, für Descartes verweist jede Maschine auf die List ihrer Konstruktion. Somit läßt sich Gott als der Künstler auffassen, dessen Kunst <artifice> die Natur ist. Damit ist klar, daß nur in der Entlebendigung der Welt das künstlerische Leben des Geistes erlaubt ist.

Der zweite Teil ist lockerer geschrieben. Auf jeden Fall läßt sich das sagen, wenn man ihn an den zwei Seiten des Abstracts gegenüber den vier Seiten für den ersten Teil bemißt. Hier zeichnet Dumont den Weg "Von der Sorge des Seins zur Sorge um sich selbst" nach. Es geht um das Verhältnis von Mechanismus und Affektivität (I.), um das Wunderhervorrufen (II.) und um Heldentum und Großzügigkeit (III.). Der Ausgangspunkt ist die Affektivität - sie kann keine Lebensregel abgeben. Die Ablehnung einer Kraft der Dinge befreit nicht zu einer Kraft der Passionen, die - erst hier läßt sich nach Dumont wirklich von einer Ästhetik bei Descartes sprechen - die möglichen Objekte einer Ästhetik des Entsetzens und der Ergriffenheit darstellen. Damit stellt sich das Problemder affektiven Präsenz in der Passion. Die Passion ist ein besonderer Fall äußerer Eindrücke - und der Körper ist die einzige direkte Ursache der Passionen der Seele (also geht es um den Eindruck umseres Körpers auf uns selbst). Hier steht Dumont nicht an, von der Institution des Gehirns zu sprechen. Und er geht dem Wollen und Wissen um dieses Wollen in einer einzigen Handlung nach. Die Identität der physiologischen Bewegung im Willen und in der Passion - das ist die Ursache der passionellen Vermischung. Es geht also nicht um den normalen Zustand der Geister <esprits>. Die Passion ist daher keine gewaltsame Bewegung. Die Freiheit des Geistes erweist sich im Gebrauch der Passionen, den ursprünglichen Vermischungen in der Einheit von Seele und Körper. Insofern geht es um die Passion als eine unmittelbare Bewußtseinsgegebenheit. aber nicht die Welt, sondern unser Körper ist dort gegeben. Der Hiatus zwischen der Welt und mir hält in der Affektivität an.

Nun kommt Dumont auf die Adresse zurück. Ihm zufolge faßt Descartes die Betriebsamkeit <industrie> als die Adresse, die Passionen zu beherrschen, womit die Kontinuität des technischen Denkens in der Ethik gegeben ist. Hier kommt Dumonts Rekonstruktion nun auch auf unterscheidliche Auffassungen Descartes' zu sprechen. Die Moral von 1637 (im Discours) bevorzugte operative Lösungen vor eitlen Spekulationen - die in Funktion tretende Moral veredelte dabei nur die Operationen. Der Sinn des Ereignisses hängte dabei von uns in einer "Technik des Glücks" ab. Nun, später, geht es um die Entwirklichung des Objekts, um eine neue Katharsis, um die "Betriebsamkeit" einer indirekten Handlung hinsichtlich der Leidenschaften. Descartes Stellung zu den Drogen wird vorgeführt, die Medizin im Blick als Leistung der moralischen Industrie referiert. Hier scheut sich Dumont nicht, ganz in Einzelnes bei Descartes zu gehen. Er kommt auf den kulinarischen Geschmack zu sprechen (der die Gesundheit bewahrt und weniger der Gastronomie zuzuordnen ist), auf den Organzustand (und der geatmeten Luft, die in der Nationalität das wahre Charakteristikum fände), auf die Passionen (als Ursache des Fiebers). Es ist die Seele, die aus dem Menschen das einzige kranke Tier mache. Referenzpol bleibt, auch für das eigene Leben Descartes' die "Adresse", die das Ich in der Krise wieder herstellt. Descartes konzipiert eine Konvergenz der Mechanik und des Affektiven in Richtung Autonomie. Es ist die Lebensfreude, deren Entfremdung im Glück wie in der Begeisterung traurig macht.

Hier ist nun endlich der Einsatz für Dumont, auf das zu sprechen zu kommen, was ihn zum Untertitel seines Buches - l'art d'émerveiller - hinführen könnte, die Bewunderung. Diese ist aber zunächst ein Fehler des Wissens. Ihr schlechter Gebrauch zeigt sich in der Sakralisierung des Objekts. Ihr positiver Gerbauch aber liegt in der Überraschung. Dumont analysiert ein Beispiel in den Meditationen von 1641. Es geht um die Ohnmacht der Überraschung, ein Objekt zu konstituieren. Und wie so oft geht Dumont einer sich anbietenden philosophiegeschichtlichen Frage nach und vergleicht die cartesische Bewunderung mit dem platonischen Staunen. Doch es gibt auch eine gesunde Bewunderung. Es handelt sich um die kausale Handlung, das einzige Objekt der Bewunderung - ein Archaismus von Descartes, wie Dumont schreibt. Die Bewunderung sucht nun im weiteren den Formenbildner in der Form. Ein positives Beispiel ist Descartes hier die intellektuelle Suggestion und Verführung. Wie Dumont entlang Descartes aufzeigt, geht es bei der Admiration um das entwirklichte Objekt - die Welt als Überraschung und Übersetzung. Das beduetet aber auch, daß die Bewunderung entwurzelt. Dumont illustriert diese Fremdheit, diese Entwirklichung für die affektive Welt mit den "surrealistischen Objekte". Descartes und die Surrealisten wohnen für ihndamit in vergleichbaren Städten.

Noch eine Kritik an der Bewunderung erwähnt Dumont. Sie werde im Gebrauch der Heldenliteratur pervertiert. Verdienst und Schätzung sind affektive Äquivalente von Ordnung und Maß, und in der in der Selbstschätzung ist die wirkliche Rolle der Bewunderung zu sehen. Unversehens sind wir mit Dumont und Descartes von der Bewunderung zur Großzügigkeit gelangt. Auch hier gibt es eine falsche - sie bewundert das Glück (der anderen). Sich unabhängig zu verhalten, ist dagegen für Descartes der einzige schätzbare Verdienst. diese Einstellung bestimmt die Vervollkommnung der Großen. Hier wird die Freiheit zum Objekt der Affektivität, hierin ahmt die menschliche Freiheit die göttliche Vollkommenheit nach. Es geht im weiteren um den Adel als soziale Gesundheit, die Kunst des Regierens. Autarkie gilt als oberstes Maß. Ihre Suche bestimmt nach Descartes die soziale Ordnung und Bewegung. Dabei ist ihm die Liebe die natürliche Institution, die einen Sinn in der Schätzung findet. Und nur so kann ihm das Schauspiel (im Theater) einer vollkommenen Freiheit zum wahren Objekt der Bewunderung werden. Dumont dringt weiter in die Geschichte, diesmal der praktischen Philosophie ein, wenn er die cartesische Liebe vom platonischen Eros und von der Freundschaft bei Aristoteles unterscheidet.

Indem die Helden aber auch im Diesseits existieren, nimmt sich Dumont mit Descartes diejenigen mit menschlichem Antlitz vor. Eine Mythologie und Ordnung der Vollkommenheiten wird entworfen, der Wahn als radikale Unvollkommenheit bestimmt, über den die Großzügigkeit siegt. Dumont geht Konvergenz von Descartes und Rousseau betreffs des Cholerischen nach, das für ersteren in einem Kind Ausgangspunkt jener Eroberung war. Wieso? Der antike Held ist für Descartes ein Kind. Die Großzügigkeit ist auch gegenüber dem Zyniker resistent, der zukünftigen Person des Romans. Auch hier geht Dumont wieder einer Reihe von Aspekten nach. So Ulysses, der als atypischer Held für Descartes den Großzügigen schon nahe gekommen sei. Dumont wirft die Abenteuer von Robinson Crusoe ein (Defoes Roman von 1719), als einen wahrhaft cartesischen Mythos. Descartes selbst habe dem rationalen Heroismus zwei Figuren gegeben, Elisabeth und Christine. Dadurch wird der Affektivität erlaubt, ihren Zweck in ihnen zu finden.

Noch einmal kommt Dumont zu Descartes' Betrachtung schöner Werke, diesmal derjenigen der Antike und kommt zur Feststellung, daß die cartesische Entzauberung deren Vision ruiniert hat (Descartes' Modernismus?). Der ästhetische Geschmack ist für Descartes eine an die Gewohnheit gebundene Einrichtung <institution>. Und das Werk ist nicht die Erfindung einer Form, sondern einer Sprache. Descartes hat das Werk damit vom Wirklichen entwurzelt und den Ort zwischen der Ästhetik und dem Wissen des Unaussprechlichen entzweigeschnitten. Das alles kommt bei Dumont dann doch etwas schnell, auch wenn er inzwischen alle Mittel der Vermittlung in der Hand hält. Wie auch immer, das Resultat wäre negativ: Descartes' Ästhetik bleibt punktuell. Die freie Einrichtung ist nur zur Bewunderung wunderbar. Die künstlerische Einstellung ist aber jene der Entwurzelung. Für sie macht Descartes aus der res extensa eine nature morte, und das bewirkt ihrerseits eine Entwurzelung der Empfindungsformen. Ist es letztlich nur um die Befreiung des Geistes in seiner Begründungsrolle aus der akademischen Tradition gegangen?

So scheint das Ende des kraftvollen Traktats mit zahlreichen Nebenergebnissen (Descartes als der Mann des Nordens, die Abwesenheit der räumlichen Ordnung inder antiken Perspektive, die Freude gegenüber Hobbes und Epikur), der nichts weniger als eine Interpretation fast des ganzen Descartes ist (hat man das Gefühl) merkwürdig unentschlossen. Doch das genau zu beurteilen, bleibt einer minutiösen Lektüre des ganzen Buches vorbehalten. Vielleicht hätte eine konsequentere Streuung des émerveiller - le merveilleux, das Wunderbare; Entzücken wäre nicht weit - und seines Topos gerade auch im frühneuzeitlichen Denken hier eine finale Straffung ermöglicht. Die Leistung bleibt phänomenal. Ein Namensindex im Umfang von zehn Seiten ist nur das ganz äußerliche Zeichen dafür.

Peter Mahr (c) 1999

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