mahr´svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.2/Juli

Rezension

10. Brigitte van Wymeersch, Descartes et l'évolution de l'esthéthique musicale, Sprimont: Pierre Mardaga 1999 192 S. FF 175. 12467 Zeichen.

Niemand wird sagen, daß die Musik nicht ihren angestammten Platz im Konzert der Künste einnimmt. Reduziert man die Zahl der Künste auf das Minimum, dann gehört sie neben der bildenden (visuellen, plastischen) Kunst und der Literatur dazu. Doch wurde die Musik als eine der Malerei und Dichtung vergleichbare schöne Kunst erst spät in die allgemeinen Kunsttheorie aufgenommen. Erst der präromantische Sulzer behandelt sie in seiner allgemeinen Kunsttheorie als eine gleichartige Kunst, nachdem sie von Dubos wenig, mehr von Batteux, wegen der Grenzziehungsproblematik der Literatur, zu ihrem eigenen Recht in der Abhandlung aller Künste gekommen war. Mit der Romantik, - neben der Literaturästhetik - ab Schelling und besonders seit Hoffmann, bricht dann der philosophische Gehalt der Musik zu einer Musikphilosophie auf. Im Denken der späteren Romantik hat die Musik dann zwischen einer frühen Lebensphilosophie und einer szientifischen Situierung ihre philosophische Dignität mit jeweils bestimmten Absolutheitsansprüchen gefunden (Wagner, Hanslick, Nietzsche). Von dieser auf Vergleichbarkeit zielenden Gleichstellung zu den anderen Künsten war das 17. Jahrhundert weit entfernt. Noch wirkte weitgehend die Stellung der Musik innerhalb des Quadriviums der artes liberales, also neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie nach, auch wenn die Rhetorik neben der Logik und Grammatik schon eine Poetik zu entlassen begonnen hatte, deren spezifische Affektenlehre nun auch einen veränderten theoretischen Status der Musik zu unterstützen beginnt.

Die an der Université catholique de Louvain lehrende Musikologin und Philosophin Brigitte van Wymeersch ist nun die erste, die dem Descartes insbesondere des Compendium musicae von 1618 unter allgemein ästhetischer Perspektive einer Monographie widmet. Daß sie dabei in fast der Hälfte des Buches dem speziellen Gebiet der Musiktheorie des 16. Jahrhunderts sowie einem guten Teil der pythagoreischen Tradition und ihrer Opposition im Denken der Renaissance nachgeht, schließlich die Folgen Descartes in der cartesianischen Kompositionstheorie bis zu Jean-Philippe Rameau aufzeigt, läßt sie zurecht ihrem Buch den Titel einer "Evolution der Musikästhetik", das heißt für die Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert geben. Methodisch fühlt sich van Wymeersch Gadamers Hermeneutik verpflichtet, wenn sie die Strukturen des Denkens des Autors im historischen Kontext freilegen will und damit, aus der Distanz, auch seine weniger stark artikulierten Vorstellungen als Inspirationsquelle abwägt. Erfolgreich, wie sich jeder durch Lektüre überzeugen kann. Die an die 400 (!) Titel umfassende Liste der Sekundärliteratur deuten ein Forschungsprojekt an, das für die Zukunft ein größeres Werk erwarten läßt.

Die Abhandlung hat vier Teile. Im ersten über die "Epistemologie im 16. Jahrhundert und die Musik" geht sie der Frage nach, ob die neue Konzeption des Wissens schon Descartes Musiktheorie beeinflußt haben könnte. Die pythagoreische und platonische Tradition in Musik, Wissenschaft und Philosophie wird dargestellt. Die Harmonie des Kosmos auf allen Ebenen mit Analogien wie bei Zarlino und Kepler wird von van Wymeersch gezeigt, ebenso die Musik als Offenbarung wie "regulatives Element der Forschung" mit den ethischen und ästhetischen implikationen. Die epistemologische Begründungen der Musiktheorie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bei Zarlino, Kepler, V. Galilei und Rameau kommen zur Sprache. Sodann folgt im zweiten Teil der"Widerspruch zur pythagoräischen Tradition", wie sie schon bei Aristoteles und Aristoxenes zum Ausdruck kommt, Früchte aber erst im 16. Jahrhundert, bei Benedetti, Stevin und V. Galilei trägt. Hierher gehören das Problem des Temperaments in der Renaissance, infolge dessen die Überlegungen zum Akkord bei den "richtigen" Proportionen, zum gleichen Temperament als notwendig (Benedetti) und als möglich (Stevin), damit aber auch die Polemik zwischen Zarlino und V. Galilei im Gegensatz zwischen "Natürlichem" und "Künstlichem", die Rolle des Sohnes Galileo in dieser Polemik und ihr Einfluß auf die Ästhetik.

Damit ist der Grund gelegt, um im dritten Teil die "Kunstphilosophie und Musikästhetik bei Descartes" vorzustellen und zu (re)konstruieren, wodurch im vierten Teil "Die Cartesianer und die Ästhetik von Descartes" mit der inzwischen eingeheimsten Fülle von Einsichten das Bild und damit der Einfluß des Cartesianismus zurechtgerückt werden können - jene Strömung, auf der der bislang einzige Essai sur l'esthétique de Descartes in Buchform von Émile Krantz 1882 seinen Indizienbeweis aufgebaut hatte. Van Wymeerschs Leitfragen sind dabei: Wie hat sein wissenschaftlicher Optimismus zur Ausweitung seines Denkens geführt? Wie verkennt Rameau die von seinem Meister selbst auferlegten Grenzen der Vernunft? Dabei geht es nicht nur um die "Mechanisierung" der musikalischen Komposition; es gelingt sogar in einem nicht zu kurzen Kapitel die cartesianische Theorie und Philosophie Rameaus festzumachen: anhand von Musik als physiko-mathematische Wissenschaft, Schönheit und Natur bei Rameau und in der Lektüre von Rameau als Künstler-Philosophen, an dem die Grenzen des Rationalismus sichtbar gemacht werden können.

Wymeersch kann damit zeigen, inwiefern die Musik schon am Beginn der rationalistischen Philosophie in den Bereich einer philosophischen Reflexion hereingeholt wird, die an einer neuzeitlichen ästhetischen Begründung ansetzt. Welchen Ort aber die Musik in einer allgemeinen Kunsttheorie einnimmt oder hermeneutisch-rekonstruktiv einnehmen könnte, bleibt ungeklärt. Vielleicht ist dies aber auch bei Descartes noch schwerer zu finden, als es schon die Ästhetik einer philosophisch-psychologischen Orientierung für Wymeersch war. - Eine andere Aktualisierung ist bei van Wymeersch stärker abgestützt. Es geht um das Erbe der Ästhetik Descartes. Noch im späteren 18. Jahrhundert, nach Rameau also, taucht die Frage der Rapports auf, wie sie durch die inzwischen aufgekommene "Instrumentalmusik", ihren Empfindungsgehalt und ihre Verankerungsmöglichkeiten reaktualisiert wird - an der Schwelle zu dem, was sich als klassische Musik und ihre philosophische Ästhetik zu formieren beginnt.

Es ist der dritte Teil, der speziell Descartes' Musiktheorie und Ästhetik gewidmet ist. Van Wymeersch geht es, Foucault folgend, um den epistemologischer Bruch gerade in der Musikästhetik des Instaurators neuzeitlichen Denkens, um einen Diskurs der Methode in privilegierter Anwendung, um Descartes' musikalische und ästhetische Doktrinen, ihre Evolution und Systemkohärenz. Das Compendium musicae steht im Mittelpunkt. Aber auch auf die musikalische Bildung Descartes' kommt die Musikologin breit zu sprechen, auf Descartes' Aufassung von den Techniken der Schrift, auf die ästhetischen Prinzipien des Compendiums. Damit sind dann alle Vorbereitungen getroffen, um "Die ästhetische Evolution Descartes'" (S.123-138) nachzeichnen zu können, mitunter im Kontrast zu den Zeitgenossen, auch zu jenen, mit denen Descartes in Verbindung steht.

Hier ist wichtig: Descartes entfernt sich von der klassischen Kunstphilosophie seines frühen Compendiums und nähert sich einer Ästhetik des Geschmacks und der Empfindung. So rückt die physikalische Identität des Tons in den Vordergrund. Der Ton wird als eine Gruppe von hin- und zurückgehenden Schlägen in der Luft verstanden, die schließlich das Ohr erreicht (was de facto einer Wellenkonzeption nahekommt). Schon im Traité de l'homme wird das Klangphänomen als Gelegenheit für die Seele verstanden, eine Klangidee zu konzipieren. Das ist die Zeit, in der der Streit mit Beeckman um die Autorenschaft des Compendium erfolgt, und in der Descartes theoretisch nicht zwischen Lärm und Ton unterscheiden konnte - nur eine Regularität oder Irregularität der Schwingungsfrequenz machen den Ton sanft oder grob. Doch Descartes Mitteilung aus dem Briefwechsel mit dem bedeutenden Musiktheoretiker Mersenne vom Oktober 1631 bringt eine Tafel der relativen Frequenzen, die auch heute noch in allen Punkten korrekt ist, wie van Wymeersch vermerkt, die sie denn auch der bis heute einzigen umfassenden Descartes-Ausgabe von Adam und Tannery 1897-1913 entnimmt, die in Satz und Seitenlayout so großzügig das Design des 17. Jahrhunderts simuliert (und die zur Zeit in einer günstigen Paperback-Edition reprographiert vorliegt). Descartes ist weiters der erste, der den Dur-Akkord auf physikalischen Grundlagen als natürlich ausweist. All das wird Rameau bis zum Dogma ausbeuten.

Die Resultate seiner Forschungen und Theorien setzt Descartes aber nicht mit der Schwingungstheorie in Verbindung. Es ist gerade diese Unfähigkeit, die ihn nach van Wymeersch "originelle ästhetische Thesen" entwickeln läßt. In einem Brief an Mersenne unterscheidet er die Vollkommenheit und Schönheit eines Tons. So wie das physikalische Phänomen im zahlenmäßigen Verhältnis und seine bewußten Auffassung nicht dasselbe sind, zeichnen sich ab nun bei Descartes die distinkten Bereiche der Akustik und Ästhetik ab. Der Ton kann vollkommen sein, ohne daß er damit auch schon wertgeschätzt wird. Erneut finden die zwei Register der Vernunft und der Passion Bestätigung: wie das Vollkommene und das Schön zu einanander stehen - , das wird von van Wymeersch über einen Zeitraum von 20 Jahren nachgezeichnet. Das Angenehme kommt gegenüber der Einfachheit (das Intervall, sein Vollkommenes) nun mehr auf die Seite des Geschmacks und des Vergnügens des Hörers. Es genügt nicht mehr der Verstand, um über die Güte der Konsonanz zu urteilen, das Gehör als Selbständiges muß vorausgesetzt werden. Descartes vergleicht sogar den feineren Imbiß (casse) mit den geschmacksangenehmeren Oliven (an Mersenne, Oktober 1631). Von dort ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum ästhetischen Geschmack. Daß das Schöne wie das Angenehme nur den Bezug (rapport) unseres Urteils zum Objekt darstellen und nicht dieses selbst, wird von einer Auffassung mit einer Leichtigkeit quittiert, sodaß das Sinnesorgan Vergnügen empfängt.

Das gilt auch für das Werk, wenn auch der Schritt zu ihm von van Wymeersch etwas zu unvermittelt vor sich geht. Auch hier ist die Schönheit nicht a priori perfekt, sondern ruft ein ästhetisches Vergnügen hervor, das eines der Gemütsbewegungen (émotions) ist. Wie schon im Compendium ist auch später die wiedergefühlte Gemütsbewegung der erstmals erregten überlegen, wie etwa bei der Liebe. In den Passions de l'âme II/94 heißt es dann auch vom Vergnügen, daß es darum geht, sich von allen Passionen im Theater bewegt (emouvoir) zu fühlen. Weiters erweist die Passion der Angenehmheit die Einheit von Seele und Geist. So unterscheidet sich die musikalische Gemütsbewegung von einer einfachen Empfindung - sie hängt von Körpererinnerung beziehungsweise persönlicher Geschichte ab. Eine Arie kann in uns Tanzlust oder Trauer aufkommen lassen. Erst wenn der Gehirneindruck der Körpererinnerung vomSeelenurteil überlagert wird, dann wird von beiden zusammen die Passion hervorgerufen. Also Sinne mit Vernunft? Nein, Descartes geht nach van Wymeersch noch weiter: nur mit den Sinnen nehmen wir klar wahr, denn der Verstand ist noch mit der Imagination dunkel (an Prinzessin Elisabeth, 28. Juni 1643).

Wenn nun der Ton nur die Bewegungsquantität repräsentiert, so macht schlußendlich erst die musikalische Gemütsbewegung die Schönheit des Werks aus. Es kann also die Musik nicht eine Wissenschaft sein, denn die Einheit von Seele und Körper ist Leben. Darin erkennt van Wymeersch eine Antizipation der Ästh Kants, die aber leider nicht weiter ausgeführt wird (es müßte die ästhetische, aber auch die teleologische Urteilskraft adressiert werden). Den Unterschied zu Kant sieht van Wymeersch jedoch darin, daß Descartes keinen ästhetischen Gemeinsinn annimmt. Es bleibt bei einem ego aestheticus in extremer Einsamkeit. Somit ist Descartes' Kunstthorie gespalten. Sie bleibt klassisch (sc. der Renaissance verbunden), sofern die Adäquation des Werks an eine apriorische Struktur des Vollkommenen gebunden ist. Sie wird modern, sofern die Schönheit in den Bereich der Seele kommt, und zwar durch das Urteil des Subjekts, wie es durch einen äußeren Reiz angeregt wird. Diese Ästhetik findet van Wymeersch über das Werk und die Briefe disseminiert. Sie kann in dieser Perspektive mit Recht sagen, daß Descartes mehr mit Dubos, Hume und Hutcheson zu hat als mit den Cartesianern. Der Vater der akustischen Ästhetik sieht das Vergnügen der Gemütsbewegungen als der Vernunft überlegen an.

Das klingt nach Diz-Huitième, nach der Zeit jenseits von Rameaus. So setzt etwa Diderot (John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven-CT/London: Yale UP 1986) ganz auf die Rapports. Diejenigen der Quantität ergeben ihm eine Mathematik der Harmonie, die Rapports der Komplexität die Schönheit einer Synthese der Mannigfaltigkeit. Sie bestehen weiters in Kunstwerken beziehungsweise in deren unverzerrter Wahrnehmung. Die reale Schönheit sieht er im ästhetischen Objekt, speziell aber in der reinen Musik der Instrumentalmusik, gepaart mit dem Klangvergnügen. Die relative Schönheit bezieht sich auf das nachgeahmte Objekt. So verficht er - gegen den Mimetismus, wie er zuletzt in Rameaus Neffen zur Referenzlosigkeit erstarrt - , eine autonome Kunst in ihrer Komplexität derart, als ob die Mathematik harmonischer Relationen eine "wissenschaftliche Ästhetik" ermögliche. Von dort ist der Schritt dann nicht mehr weit anzunehmen, daß die Theorie der Wahrnehmung für die wahrgenommenen Schönheiten nicht ausreicht, weil sie nur die Relationen der Kunst zur Welt erfaßt und nur äußerliche Kriterien in ästhetischen Urteilen anwendet. Was Diderot an der mimetischen Kunst kritisiert - die Beschränkung durch ihr Medium und dessen Dichte und Fülle in der Textur - , wird in der autonomen Kunst zur Qualität (hierher gehören auch die entsprechende Literatur der emblematischen Poesie und die Architektur). - Gewiß, das alles klingt ungleich dynamischer, moderner als Descartes. Doch sind die Elemente und die Probleme der Ästhetik nicht gleichgeblieben? Hat nicht die absolute Musik des 19. Jahrhunderts noch am Grundproblem der Ästhetik angeknüpft, wie es bei Descartes schon in der Spannung von klassisch aufgefaßter Kunst und ästhetischer Empfindung zum Ausdruck kam? Wie weit reicht die Ästhetik Descartes wirklich? So weit wie das Denken der temps modernes überhaupt?

Peter Mahr (c) 1999

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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