mahr´svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.2/Juli

Bibliographie

5. L'effet Tolbiac. Ästhetik, Archaik, Mythik und Technologie der neuen Bibliothèque nationale de France . http://catalogue.bnf.fr/framesWEB.jsp. Mit einem Bericht, Hinweisen und einem Zitat aus dem Architektonik-Kapitel von Kants Kritik der reinen Vernunft. 26023 Zeichen.

Allgemein ist die Architektur als Kunst so unrein wie das Theater. Während das Schauspiel als Ensemble von natürlicher und künstlicher Bewegung nur über einen supponierten Sinn durch ein Narrativ (Akt), Bild (Szene) beziehungsweise Musik (Ballett) zum Theater in abendländischer Tradition wird, ist Architektur als begehbare Skulptur erst die Bedingung ihrer Möglichkeit. Dem Denkmal verwandt, hat Architektur repräsentativ-symbolische Bedeutung und pragmatische Funktion für die sie begehenden, verwendenden und umgehenden Lebewesen. Überdies ist sie einer prinzipiellen konzeptiven wie materiellen Inkonstanz unterworfen. Der Auftraggeber mag in den Entwurf ebenso eingreifen, wie er den endgültig realisierten Bau modifizieren oder vernichten kann. Nur die Autorität des Staates kann eine bestimmte Architektur zum identen Werk dekretieren. Das geschieht dann mittels des ungenauen Begriffs des Denkmalschutzes, ungenau, weil es in "bloßer" Architektur nicht primär um ein zusätzlich kontextuell vermitteltes Andenken geht, das die ontologisch wie immer auch beschaffene, meist materielle, Identität des Objekts voraussetzte. Andererseits ist die Identität der Architektur seit dem 18. Jahrhundert in den Begriff des autonomen Werks, genauer des ästhetisch autonomen Kunstwerks eingeschrieben. Doch ändern Ästhetik wie Denkmalschutz nichts daran, daß die Architektur ein Handlungszusammenhang ist wie das Buch. Die Architektur existiert nur in der Wahrnehmung und Nutzung ihrer Teilnehmer. Das Buch existiert nur, indem es angegriffen, gehalten, umgeblättert, gelesen, exzerpiert wird, indem über es geschrieben und indem neue Bücher geschrieben werden, die die alten in Erinnerung rufen und damit in ihrer Existenz bewähren.

Die Minimal Art war in den 60er Jahren aus einer formal-analytischen Konsequenz der Malerei des abstrakten Expressionismus sowie ihres Diskurses (Greenberg) und aus den seriellen wie mathematischen Konsequenzen spätmoderner Architektur (Dan Graham) wie geometischer Malerei (De Stijl) entwachsen. Die geometrischen, formalen Elemente der Malerei wurden im zu spezifizierenden allgemeinem Objekt der Mono- oder Bichromie entgegengesetzt, zugleich die Probleme von vollem und leerem Volumen, von Transparenz und Opazität sowie die Forderung poppig unmittelbarer Gestaltwahrnehmung nach Pollock übernommen. Doch kaum waren die Arbeiten Donald Judds, Carl Andres, Sol LeWitts und Dan Flavins in einer gemeinsamen Formation sichtbar geworden, regte sich sich auch schon der Widerstand gegen sie am Format, am Material, am Stationären, am Status des Objekts als Handelsware. Die Land Art brachte die Monumentalität und den vorhandenen, geologischen Außenraum ins Spiel; Eva Hesse führte die weichen, Organischem affinen Materialien zur Dramatik einer auch sebstbedeutenden Irregularität; und Robert Smithson gelang es, mit der Arbeit an materialimmanenter Prozessualität die Entropie in die Konfiguration einzuführen und damit soziale Potentiale zutage zu fördern.

Mit diesem Postminimalismus schien, neben der Kritik durch die Concept Art, der Führungsanspruch der Minimalisten eingeschränkt, wenn nicht zurückgewiesen. Tatsächlich kam eine künstlerische Erneuerung in der Minimal Art erst in den 80er Jahren zum Vorschein, als es darum ging, derneuexpressiven Malerei vorwiegend Kontinentaleuropas und der Neuen Skulptur vorwiegend Großbritanniens die Stirn zu bieten. Die Besinnung oder Reflexion auf jene Werte der 60er Jahre führte zu einer Verstärkung der Polychromie und partiellen Aufgabe der Orthogonalität innerhalb des skulpturalen Settings, die bei Judd, Flavin, LeWitt und Andre mit einer verstärkten Präsentation reicher Materialien einherging. Besonders Judd wußte diese Qualitäten auszuspielen. Verleimtes Sperrholz, Aluminium, Plexiglas wurden in einer handwerklichen wie visuellen Perfektion eingesetzt, als ob es darum ginge, mit dem Reichtum auch das reine Reich der Formen zu verewigen. Die geometrisch-proportional gegliederten vollen und leeren Volumina fanden nun aber eine Steigerung in der gleichzeitigen Integration immer raffinierterer Mehrfarbenkalküle in der Art der späten Geometrien von Richard Lohse, eines Vertreters der in den 60er Jahren als Referenzpunkt noch nicht in Frage kommender konkreten Kunst. Und schließlich ging Judd in seinen letzten Jahren dazu über, seine Erfahrungen auch über die damals en vogue befindliche Möbelskulptur hinaus in die Produktion rein geometrischer furnierter Möbel zu übertragen. Wie Mondrian einst gegen van Doesburgs Schräge Einspruch erhoben hatte, errichtete er Gebilde aus streng horizontalen und vertikalen Ebenen, ohne Verstrebungselemente zu erlauben - Tische, Bänke, Regale. Voilà!

Als ob es nur mehr des Anstoßes Rodney Grahams bedurft hätte, der sich in ebendenselben späten 80er Jahren den Witz erlaubte, "Regal"-Arbeiten in Juddscher Manier so zu dimensionieren, daß etwa die Gesammelten Werke Sigmund Freuds genau hineinpaßten, setzte der 1989 ausgewählte Bibliotheksentwurf Dominique Perraults an dieser Ironie an. Perrault verknüpft seinen Minimalismus, der mit dem angereicherten Baumaterial (contra arte povera) schon bei Judd nur scheinbar gegen die Postmoderne der 80er Jahre gerichtet war, mit einer Symbolik, die aus dem ganzen Gewicht des Materials und seiner Form deduziert erscheint. War sich der hochdotierte Star-Architekt dieser Lage überhaupt richtig bewußt?

Das Gebäude wurde entlang der Seine anstelle eines Güterbahnhofes errichtet. Es steht auf einem etwa 600 mal 150 Meter großen, abschüssig angelegten Gelände. Rechteckig angeordnet, werden vier schlanke Hochhäuser auf drei Seiten durchgehend von weit ausladenden und wie bei ägyptischen Pyramiden weit hinaufführenden Tropenholzstufen umkränzt. An der vierten Seite befindet sich nur das rundumlaufende begehbare Holzplateau - von dort ist der Rest des übrig gebliebenen Bahngeländes und der prachtvoll ansteigende 13. Bezirk von Paris zu sehen. Der Grundriß der vier, je einem Wissensgebiet gewidmeten Türme ist ein beidseitig gleich langer, rechter Winkel. Die Turmlager sind vollständig verglast und mit unzähligen, nachträglich eingesetzten, vor Sonnenlicht schützenden Holzwänden bestückt. Diese hellen "Paravants" können um die eigene Achse gedreht werden und geben fallweise den Blick auf Buchregale und Büroeinrichtung frei. An den schmalen Ost- und Westseiten des Gebäudes leiten nur leicht gekippte lange Rollbänder in das von einem nicht zugänglichen Park frei gehaltene Innere, zum Eingang ins Obergeschoß. Holzboden, fahlroter Teppich, moderne Sitzgarnituren, hier eine riesige Wandskulptur von Louise Bourgeois, dort ein Lichtenstein-Wandteppich, - sie breiten sich in großen Loggien aus, in denen sich die uniformierten Guards tummeln. Über lange Gänge sind die mehr oder weniger offenen Lesesäle zu erreichen.

Prinzipiell ist den vier Türmen der Zeiten, der Gesetze, der Zahlen und des Geistigen (lettres) schon vom Bestand her ein je eigener Bereich zugeordnet: Philosophie, Geschichte und Humanwissenschaften; Recht, Wirtschaft undPolitik; Naturwissenschaften und Technik; Literatur und Kunst. Dazu kommt der Bereich des Audiovisuellen: auf Reproduktion angelegte Ton- und Bildwerke. Das Ganze mal zwei, denn es gibt den Stock mit den unnumerierten Plätzen für Freihandaufstellung ohne Bestellmöglichkeit und, darunter befindlich, den Stock, der den Forschern vorbehalten ist, das heißt technisch jenen, die Bücher zu bestellen autorisiert sind.

Ein Zeitungslesesaal, Ausstellungsfläche und Vortragssäle kommen neben den Arbeitsräumen für die Angestellten hinzu. Es gibt eine Mensa für das Personal, für die Leser zwei kleine Stände mit Snacks und Getränken. Ebenso imposant wie schmucklos der Beton ist das riesige Stiegenhaus, eigentlich ein Rolltreppenhaus, über das man in den unteren Stock gelangt. Den Gängen entlang leuchten an wie mit isolierendem Drahtgeflecht von Stromkabeln umwickelten Stangen umgedrehte Kegel. Oder es sind vier übereinander gesetzte Metallblöcke, von einer ebensolchen Stange gehalten und wie große Computerchips aussehend. Die großen Betonflächen sind manchmal mit Teppichen aus Metall bedeckt, ebenso wie leicht abschüssige Verbindungsgänge. Beton, Metalle, Hölzer dominieren. Das Mobiliar ist streng und erinnert an Judd's Möbel und Möbelskulpturen der 80er Jahre. Der Standardstuhl für die LeserInnen - orthogonales, hohes Gerüst und geschwungene, hoch auslaufende Sitzfläche in dunklerem Braun - ist auch in der Zeitung inseriert. Die Tischbänke enthalten mehrere rote und grüne Signallämpchen pro Leser, die Beleuchtung ist eine Fläche, in die, nur von unten sichtbar, an die 50 solcher kleinen, nun weißen Signallämpchen eingebaut sind.

Die Frage, die sich der sowohl der Postmoderne wie der Dekonstruktion entwachsende technoide Perrault stellte, war zweifellos: Wie das Buch symbolisieren und als Symbol architektonisch abstrahieren? Perrault entschied sich, liest man das Gebäude komplett, für eine mehrfache Antwort. Die archaische heißt: vier Bücher zu einem Winkel von 90 Grad aufschlagen und als enzyklopädische Stelen zu einander "sprechen" lassen. Die technologische heißt: die optimale Zirkulation der Druckschriften und ihrer Leser bei optimaler Kontrolle zugleich zu gewährleisten wie darzustellen. Die mythologische heißt: das Wissen Frankreichs von einem personalen Ursprung her auszulegen und der Person ein buchverkörperndes Monument zu setzen. Und die ästhetische heißt contre coeur, die Nutzer und die Bücher so einzusperren und zu kanalisieren, daß eine Selbstbesinnung geradezu auf den Plan gerufen wird.

Mythik. Es heißt, daß der französische Präsident François Mitterand sich die Modelle des Wettbewerbs ansah und sich persönlich, gegen die Vertreter der Bibliothek, für den Entwurf von Perrault entschied. Weiters spricht man davon, daß der Innenhof mit der Vegetation des Geburtsortes Mitterands begrünt ist. Indem nun die ausgewachsenen, doch stützungsbedürftigen Föhren, die Farne, vielleicht auch Waldblumen auf einem wie leicht aufgeschütteten Hügel angepflanzt sind, ergibt sich der Eindruck eines Grabhügels. Diese leichte Böschung gerät nolens volens zum großen Grabsymbol des urhebenden Präsidenten. Nicht zu vergessen, daß der eine Endbahnhof der strukturentwickelnden neuen U-Bahnlinie 14 in der Nähe des Geländes Bibliothèque François Mitterand heißt. So heißt der größte Teil der Bibliothèque nationale Bibliothèque François-Mitterand/Tolbiac, mitbenannt nach dem umliegenden Viertel. War der Präsident ein besonderer Buchfreund? Ein vehementer Förderer und Patron des Buches? Gar ein eifriger Leser? Zweifellos geht Mitterand in die Geschichte der Hauptstadt Frankreichs, als Bauherr und Förderer großer kultureller, architektonischer Entwicklungen ein. Aber das Buch? Ein voluntaristischer Akt der Appropriationeines beträchtlichen Kulturerbes, ganz im Sinne der appropriation art der 80er Jahre: statt Freud Mitterand in der Box, gefangen, nutzlos, den puren Tauschwert symbolisierend. Wenn dem so ist, dann kann die Intention Perraults heute nur mehr ironisch gelesen werden. Wie aber dann diesem Kraftakt der Repräsentation gerecht werden.

Archaik. Nicht Mitterand, der die Bibliothek noch kurz vor seinem Tod einweihen konnte, ist am Site Tolbiac begraben, sondern das Buch. Die Bücher existieren nicht im lebendigen Umgang, sie sind repräsentiert. Das schließt nicht ihre Präsenz ein. Im Gegenteil. Mit der Monumentalisiserung Mitterands kreuzt sich seltsamerweise die Tendenz des Abschließens, Bewahrens der Bücher vor den Lesern. Wie es der Folder für die gesamte Nationalbibliothek zum auflistet: erstens sammeln sowie Sammlungen konstituieren und anreichern; zweitens die Documente nach Form, Inhalt und manchmal ihrer Geschichte beschreiben; drittens sie für die Zukunft durch Restaurierung, Reproduktion und Bewahrung konservieren; erst viertens sie übermitteln und in Beständen so zur Geltung zu bringen, daß die Sammlungen dem Publikum und (!) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Letzteres läuft Ausstellungen, Web-Sites und andere Veranschaulichungen hinaus. Just in dem Moment, in dem im Zuge der Informatisierung mit der Information auch das Buch informatisiert wird - gescannt, rekatalogisert, umgestellt, visualisiert - , macht sich eine Archaisierung breit, breitet sich ein Kult des Buches aus, der weit über das kommerzielle Maß hinausgeht. Das Buch wird zum Sorgenkind und besonderem Liebling der Konservierung und erfährt eine Individualisierung, die der massenhaften Vervielfältigung, die ihm digital noch bevorsteht, Hohn spricht. Das Buch wird zum Objekt, zu einem zweiten Werk, das seine Aura nicht mehr über seine Geschichte des Gebrauchs erwirbt, sondern seine Veredlung über die konservatorischen Maßnahmen der Bibliothek gewinnt. Das Buch wird zum Museumsstück, zum Kunstwerk, zu einem Objekt, das betrachtet, aber nicht mehr benützt wird.

Die technologische Antwort auf die Frage, wie das Buch zu symbolisieren wäre, ist lautet: die optimale Zirkulation der Druckschriften mitsamt ihren LeserInnen bei optimaler Kontrolle gewährleisten. Hier greift denn auch Perrault, wie bewußt auch immer, auf eine große Tradition barocker Repräsentation zurück. Es ist die Mechanik, mit der er die Architektur konnotiert. Bücher in die Türme hinaufpumpen und von ihnen zu den Plätzen herabfließen lassen. Die Besucher, LeserInnen in das Gebäude kippen, verteilen, zu den Plätzen führen. Dazu braucht es nicht nur Leitsysteme, sondern auch die kontrollierende Repräsentation einer Überwachungsgesellschaft mittels Computersystem, das den jeweiligen Aufenthalt des Lesers/der Leserin anzuzeigen in der Lage ist - ob auf der Toilette, am Leseplatz, in der Pause und so weiter. Eine solche machine de Marly - das Bewässerungssystem für Versailles - erfordert den präzisen Einsatz der Mittel. Auch wenn das Computersystem nicht funktioniert, die "Festplatte" ist gebaut und in Funktion - wie immer auch die beteiligten Einheiten von Bits: die LeserInnen, Bibliothekare und Bücher die vorgesehenen Datenflüsse vollziehen.

Die ästhetische Antwort. Wenn es gestattet ist, dann sei Ästhetik die Selbstempfindung einer solchen Biteinheit genannt. Die Bücher, wenn nicht ohnehin schon in Mikrofiches oder Microfilm verwandelt, muten seltsam fremd an. Auch die gerade neu erworbenen wirken wie Zeugen einer alten Zeit - aber nur im ersten Moment. Einmal aufgeschlagen, breitet sich das Flair der Buchwelt so aus, als ob das Lesen nie einer Bibliothek bedurft hätte.Versenkung ist in den diszipliert ruhigen, weitgehend mit dicken Teppichen ausgestatteten Räumen möglich - wenn man nicht gerade in Sälen sitzt, die sich in der Nähe der mit Gummi abgedichteten Portale liegen, welche zu den Toilettezeiten besonders oft quietschen. Neben einer Selbstästhetik der Zweck- und Systemerfüllung macht sich dann auch eine Ästhetik des Gelingens breit. Als chercheurs müssen wir zudem nicht in die Grabkammer hinunter, sondern genießen den Ausblick auf einen Teil des Gartens, der in seiner Unbetretbarkeit wohl eine Konzession an den postmedievalen Geist des Protestatismus ist. Die Personen (und die Bücher?) reagieren also auf Perraults postminimalistische Postmoderne. Dem Eigensinn des Architekten in Ironie und moderner Materialrationalität läßt sich, trotz der trockenen Luft, eine Ästhetik entgegenstellen, die weniger auf die restriktiven Gegegebenheiten als auf die transzendenten Möglichkeiten eingeht, die sich in jeder Architektur jenseits vorgegebener Zwecke ergeben. Vive la liberté!

*

Eines morgens im Mai 1999 lagen mehrere Guards in blauer Univorm am roten Teppichboden des Eingangsbereichs, wie betäubt, den Oberleib entblößt. Andere Personen machten sich an ihnen zu schaffen. Es sah nach einer Übung in Erster Hilfe aus. Wie sich herausstellte, war bei der Öffnung der Bibliothek ein Unfall geschehen. Die Guards hatten versucht, die Zugbrücke (!) des allgemeinen Personenförderbands beim Eingang Ost zu heben und waren von einem herabsausenden, schweren Metallteil getroffen worden. Die Gewerkschaft machte einen Defekt verantwortlich, der von der Rolltreppenfirma nicht behoben wurde, weil ihr die Bibliothek mehrere Wochen lang offene Rechnungen nicht beglichen hatte. Das war zumindest auf einem Flugblatt zu lesen. Andere Flugblätter sollte folgen. Ende Mai wurde mehrere Tage hindurch am Vormittag - ohne absehbares Ende - gestreikt. Es ging um Protestaktionen gegen Kürzungen des Ministeriums. Doch der Unmut und die Frustration, die den Streikenden, die die Zugbrücke verbarrikadierten, ins Gesicht standen, hatte weit mehr Gründe, als in dieser Gewerkschaftsaktion zum Ausdruck kam.

Als nach der Eröffnung im Herbst 1998 gleich einmal zwei Monate gestreikt wurde, war bald klar, daß eine Institution mit der Fertigstellung der Architektur nicht notwendigerweise schon funktioniert. Was das EDV-System betrifft, so waren zu diesem Zeitpunkt schon 2600 Arbeitsschichten mit 60 Mitarbeitern erfolgt; dennoch bewirkten Verzögerungen der Installation des Programms, seine armselige Performance und Fehler ein vergiftetes Klima gegenseitiger Anschuldigungen (dazu, auch im weiteren, Michel Alberganti, L'informatique de la Bibliothèque nationale de France cumule de piètres performances et deux années de retard, in: Le Monde, 14 avril 1999, S.30). Inzwischen funktioniert die multikriterielle Eingabe auch online, auch wenn es mehrere Minuten braucht. Anfang April mußten Chipschleusen außer Funktion gesetzt und ausgeschaltet bzw. geöffnet werden. Das System erlaubt nicht, den Sitzplatz am selben Tag zu wechseln. Das Programm soll im Oktober 1999, also 2 Jahre später als vorgesehen, fertiggestellt sein, das sind 5 Jahre nach Arbeitsbeginn der Softwarefirma Cap Gemini. Die BnF organisiert extra Hearings, um die Übereinstimmung der gelieferten Programmteile mit den angeforderten zu überprüfen. Auch bleiben viele ältere Programme, die schon durch die Versionen 2 und 3 ersetzt hätten werden sollen, in Funktion. Das schon im vorhinein berüchtigte Jahreswechsel 1999/2000 soll mehrere Millionen Francs kosten.

Kaum eine Woche vergeht, in dem die Bibliothek nicht mit negativen Schlagzeilen in der Zeitung steht. Es ist aber auch die Frustration, die sich mit derjenigen der Leser anhäuft. Von einem Tag auf den anderen durfte mit den reichlich aufgestellten Laserdruckern nur mehr um 1 F pro Blatt ausgedruckt werden, für das Internet waren aber die ersten zehn Ausdrucke gratis. Man darf auch bezweifeln, ob das @-Logo das richtige Zeichen für das Internet ist. A propos @. Ein E-Mail-Zugang via Telnet wurde, wie in einem Prospekt vermerkt, nicht zur Verfügung gestellt. Auf meine Nachfrage belehrte mich ein Bibliothekar, daß das auch nicht die Aufgabe der Bibliothek sei; ich könnte ein Cybercafé aufsuchen. Durch Zufall enthüllte sich, daß der aus der Ferne angesteuerte Online-Katalog über Telnet zu öffnen wäre. Letzteres funktionierte zwar nicht, doch konnten nun wunderbarerweise ein paar Wochen lang gratis e-mails geschickt werden.

Um Entgegenkommen zu den Lesern ist man bemüht. Es werden 8 Stück Bestellungen pro Tag, in welchem Material auch immer, angenommen davon können für maximal drei telephonisch gefragt werden, ob sie schon im Fach sind. Einmal wurde eine Woche lang getestet, 8 Bände und 8 Mikroformen direkt zu bestellen und auszuhändigen, "um zum normalen Betrieb überzugehen". Was damit für Erfahrungen gemacht wurden, erfuhren die Versuchskaninchen nicht. Doch im Einzelnen ist dann vieles möglich, auch im persönlichen Umgang, um den sich ein Teil der BibliothekarInnen trotz des institutionellen Stolzes bemüht. Eine Zeitschrift schien im Katalog auf, nur die erste Nummer traf dann ein. Daß es nur eine Nummer überhaupt gab, ließ sich direkt und sofort telefonisch ermitteln, ohne daß auf einem Formular die spezielle Nachfrage niedergeschrieben und die Antwort darauf ein paar Tage später abgewartet hätte werden müssen.

Für den Zugang zu den Lesesälen beider Stockwerke sind kreditkartenähnliche Ausweise vorgesehen, die von elektronisch gesteuerten Drehkreuzen eingezogen und zur freizugebenden Passage ausgespuckt werden. Für den Status des Forschers ist eine Beglaubigung oder Bestätigung der bibliotheksspezifischen Forschungsabsichten seitens einer Universität oder Forschungsinstitution erforderlich. Personaldaten werden aufgenommen, eine Kamera nimmt das "Paßbild" auf, das auf die Plastikkarte übertragen wird. Sie wird gültig, für den unteren Stock (Di-Sa 9-20 Uhr), durch die Zahlung bei einer von 6 (!) Kassen 30 F für 2 Tage, 200 F für 12 Tage oder 300 F. Letztere beide Einstufungen erlauben auch den Jahreszugang für das oben befindliche Stockwerk. Für den oberen Stock (Di-Sa 10-20, So 12-19) sind für einen Tag 20 F, das Jahr 200 F zu entrichten. Die Quittung ist weniger noch als ein Kassazettel eines Supermarkts: dünn, schlecht gedruckt, können die 300 F gerade noch ausgemacht werden. Da sind Supermärkte, auch in Frankreich, besser. Jeder Artikel wird kenntlich bezeichnet, worauf man beim Kauf einer Baguette verzichten könnte. 300 F sind jedoch kein Bagatellbetrag. Der Leser avanciert vom Nutzer einer Einrichtung des öffentlichen Gemeinwesens zu einem Dienstleistungsnehmer. Dennoch ist er, in der öffentlichen Diskussion, nicht vertreten und wird wie auf einem Amt, mitunter von oben herab, behandelt.

Zahlreiche Prospekte erschließen zusätzlich das Angebot, der guide thématique des encyclopédies spécialisées haut-de-jardin, die Dewey-Klassifikation (nach Melvil Dewey 1851-1931) gliedert die vier Hauptbereiche, den Bibliographie-Raum und der audiovisuellen Abteilung, nach der die Bücher des Freihandbereichs aufgestellt sind (und die Rara ...). Manche Freihandbereiche des oberen Stockwerks erscheinen punktuell geringfügig besser ausgestattet. Imallgemeinen stehen die Bücherbestände oben denen unten nur in wenig nach. Nach Dewey sind in der Salle K für die Philosophie unter Allgemeines Lexika, Handbücher, Philosophiegeschichten nicht nur neueren Datums versammelt. Einige einzelne Systeme und philosophische Schulen gehen der antiken, mittelalterlichen und allgemein der abendländischen Philosophie voran, um dann - für jeden Bereich werden die Primärliteratur alphabetisch nach Autoren (mitunter mehrere Standardausgaben) und ihre Sekundärliteratur aufgestellt - ziemlich erschöpfend die Philosophie Nordamerikas, die englische, deutsche und österreichische, französische, italienische, spanische und portugiesische Philosophie, diejenige der anderen europäischen Ländern, des nahen und fernen Ostens, Afrikas und Lateinamerikas zu versammeln. Neben der Philosophie ist hier Psychologie/Psychoanalyse/Erziehungswissenschaft und die Religionswissenschaft vertreten.

Manche Autoren mit ihren Gesamtausgaben und dazugestellte Sekundärliteratur sind zwei Mal oder sogar öfter vertreten, so Diderot und Rousseau. Zusätzliche Diderot-Ausgaben gibt es unter "Literatur". Baldine Saint-Giron's leider vergriffenes monumentales "Esthétiques du XVIIIe siècle: le modèle français" von 1990 steht unter Dewey's histoire de l'art par pays. Natürlich gibt es Überschneidungen. Nicht nur findet sich die Enciclopedia Einaudi an mehreren Stellen. Für Wörterbücher ist das ohnehin selbstverständlich, liegen doch die Säle reihum im Viereck angeordnet, dessen jeweils entferntesten Punkt zu erreichen 2 Minuten Gehzeit erfordert. Daß die Magaziner Bücher aus anderen Türmen herbeitragen müssen, soll nicht abhalten, bei mehreren Tagen Arbeit den gleichen Platz zu reservieren, was etwas bis zu drei Wochen vorher möglich ist. Sollte für kurze Zeit ein weiterer Platz nötig sein, wenn die wenigen unnumerierten Plätze besetzt sein sollten, dann können die Bibliothekare auch händisch Plätze einräumen.

Es ist ratsam, ein seltenes Buch händisch in der Rara-Abteilung zu bestellen. Dann bekommt man nämlich das Buch nach kurzem ausgehändigt. Sonst muß man wohl an die 24 Stunden warten, vielleicht etwas weniger. Es muß ein Platz für einen bestimmten Tag mit einer bestimmten Tageszeit reserviert werden. Maximal eine Stunde Verspätung wird vom System erlaubt, um die Bücher nicht zu verlieren. Auch wenn sie noch im Regal liegen, ist es auch mit den größten Bemühungen nicht möglich, mit dem Code die Daten der Bücher wieder ins System zu bekommen und den Band dann auszufolgen, denn es wird auch der Sitzplatz gelöscht, und ein neuer kann frühestens wieder für den nächsten Tag bestellt weden. Eine Änderung der prospektiven Ankunft ist nicht möglich, es sei denn, man riskiert, die Bestellungen zu löschen und die Bücher wieder ungewollt zurückzuschicken. Bestellungen nach 13 Uhr werden für den folgenden Tag nicht angenommen.

Das alles lehrt einen, wenn man es nicht schon weiß, das Computersystem. Jedes "document" - also jede ausgebbare Einheit - ist im EDV-Katalog repräsentiert. Oder doch fast jedes: manche nicht neu angeschaffte Bücher der Freihandaufstellung sind es nicht und, wie gemunkelt wird, manch kleinerer Bestand. Das ändert jedoch nichts an der großartigen Leistung, einschließlich der ältesten Bestände jegliches Druckwerk mit einem ausführlichen Eintrag mit Volltextsuchmöglichkeit zu dokumentieren. Alle Zettelkataloge scheinen so erfaßt worden zu sein. Auch wenn die Zurverfügungstellung gescannter Dokumente (als solche markiert) aus rechtlichen oder technischen Gründen noch nicht funktioniert - das ist sogar über den Server Gallica 2 via Internet geplant - , so läuft einem doch bei der Ankündigung solcherart zugänglicher 5000Monographien und 30000 Bilder schon das Wasser im Mund zusammen. Für die Freihandaufstellung sind 373.000 Bände und die jeweils mindestens 5 jüngsten Jahrgänge von - hier sind die Angaben eindeutig überzogen - 4800 Zeitschriften angegeben (geplant?). Dazu 200.000 seltene Druckschriften und 2000 Erotika, "die die 'Hölle' der Bibliothek bilden" (Zitat Kurzführer).

Die Fotokopie, wenn erlaubt, kostet 2 F. Einseitig, macht also für die reguläre Kopie zusammen 4 F; der Plastik-Chip kostet 5 F (wofür? das Stück Plastik kostet in der Bibliothèque Sainte-Genéviève nichts, die Kopie 1 F). Ohne schwer zu erreichende Spezialgenehmigung - für jede Fotokopierstelle ist eine eigene Person angestellt, die den Job durchführt - ist auch nicht erlaubt, mehr als 10% eines Titels zu kopieren (30 % bei Periodika). Sind die Bücher etwas abgenutzt oder nur leicht beschädigt, wird man zu BibliothekarIn ("PräsidentIn des Saales") geschickt, der/die ebendeswegen die Genehmigung nicht erteilt. Die Frage, ob eine Reproduktion (Service de reproduction) möglich sei, wird positiv beantwortet: 1 Seite fotografiert 25 F, eine Seite fotokopiert (?!!!?) 10 F; bei wochenlangen Wartezeiten, lautet die Warnung. Man wird es also drei Mal überlegen zu fotokopieren - eine Zumutung, besonders für Gastforscher, die sich nicht so schnell in anderen Bibliotheken aushelfen können.

Abgenutzte, leicht beschädigte oder alte (nicht seltene) Bücher werden meist in zum Teil aufwendig hergestellten, maßgeschneiderten Kartonbehältnissen ausgehändigt. Spezielle Plätze in der Nähe der Buchausgabe sind dafür vorgesehen. Die Unruhe der "communication", also der Leserbetreuung, ist dann in Kauf zu nehmen. Oft benutzte, insbesondere alte Bücher sind als Microfilm oder Microfiche zu lesen. Da aber Microfilmgeräte Lärm machen, sind die "Mikroformen" in eigenen Räumen zu lesen. Zu achten ist auf den richtigen Platz, damit die Geräte nicht das Licht für Links- bzw. Rechtshänder verstellen. Es braucht schon Glück, damit ein nicht ganz perfekt eingeschulter Mitarbeiter den Leser (alte) Bücher zum Vergleich mit Büchern in Mikroform zu de Geräten mitnehmen läßt. Eine Beschwerde sollizitierte die Antwort, man wisse um das Problem Bescheid und werde daran arbeiten.

Man muß sich nicht für jeden Fall auf das Site Tolbiac konzentrieren. Für nicht unbeträchtliche Bestände sind die Teile Richelieu-Louvois (die alte Bibliothek ohne den viel betrauerten Salle Labrouste und ohne das schnelle Service zum Leseplatz hin), Arsenal und Musée de l'opéra besser eingespielt. Alles von den alten Medien, was nicht Buchdruck ist, wird ohnehin dort betreut: Stadtpläne und Landkarten, Drucke und Fotografien, Musikalien, Münzen/Medaillen/Antiken, Manuskripte sowie Sammlungen zu Schauspiel und Kino, soweit sie nicht am Site Tolbiac untergebracht sind, in der Inathèque nämlich, ihren Sammlungen von Klängen, Filmen, Videos, Multimediaprodukten und zugehörigen Druckwerken.

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Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, S.832 u. 850f.: "Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft , d. i. aus eionem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Szientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt, ... Eben deswegen ist Metaphysik auch die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluß, alsWissenschaft, auf gewisse bestimmte Zwecke bei Seite setzt. Denn sie betrachtet die Vernunft nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger Wissenschaften, und dem Gebrauche aller, zum Grunde liegen müssen. Daß sie, als bloße Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern, tut ihrem Werte keinen Abbruch, sondern gibt ihr vielmahr Würde und Ansehen durch das Zensoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert, und dessen mutige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen."

Aus dem behandelten Zeitraum:

Michel Alberganti, L'informatique de la Bibliothèque nationale de France cumule de piètres performances et deux années de retard, in: Le Monde, 14. April 1999, S.30

Robert Darnton, in: New York Review of Books, March 18th, 1999, S.

Emilie Grangerey/Patrick Kéchichian, Le Net: second souffle pour les sciences humaines?, in: Le Monde des livres, 28. Mai 1999, S.VII

Roger Chartier, Une nouvelle espèce de livre, in: Le Monde des livres, 28. Mai 1999, S.VII

Peter Mahr (c) 1999

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