mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

2 (1999), Nr.1/März

Miszelle

11. Rotes Quadrat, blaues Dreieck, gelber Kreis? - Baukasten zu einer Theorie des Bewußtseins. 3305 Zeichen.

Schrift, Schriftgröße, Schrifttype, geometrische Figuren vom Drei- bis zum Achteck, von Kreis, Ellipse, Rechteck zu Quadrat, weiters eine gewisse Anzahl von Farben, mit denen die Figuren gefärbt und auf welche die Begriffe geschrieben werden sollen - das alles ist auf Bögen auszudrucken und auszuschneiden. Ein Spiel? ein psychologisiertes Soziogramm? Eine ernste Selbstanalyse? Alles und noch viel mehr!

Psychologische Begriffe sollten also angeordnet werden - "folk psychology": wie jeder sein Bewußtsein sieht. Ein Begriffs-Set: Absicht Ambivalenz Anschauung Assoziation Aufmerksamkeit Ausdruck Bedeutung Beobachtung Denken Einbildung Eindruck Einfühlung Empfindung Erfahrung Erinnerung Erkennen Erlebnis Einsicht Gedächtnis Gefühle Gewißheit Ich Innen/Außen Introspektion Lust Mentales/mind Phantasie Reaktion Reiz Schlaf Schmerz Seele Sinn Subjekt Traum Trieb Unbewußtes Überzeugung Urteil Vergessen Verhalten Verinnerlichung Vernunft Vorstellung Wahnsinn Wahrnehmung Wille Wissen Wunsch.

Es gibt die traditionelle Psychologie, wie sie sich seit Descartes und Locke wissenschaftlich entwickelt hat: empirisch, experimentell, szientifisch, mit epistemologischem Primat. Sie reicht bis in die 50er Jahre. Spätestens mit dem Computer-Zeitalter kommt eine neue Phase. Die cognitive science erstellt Modelle, mit denen Bewußtsein simuliert werden können soll. Dazu braucht es aber Kriterien, die diese Modelle als dem/n natürlichen Bewußtsein/en ähnlich genug erweisen. Solch Bewußtsein/e sollen letztlich der Prüfstein sein, der technische Realisierbarkeit gewährleistet. Daher wird hier der Rückgriff auf die Modelle des Bewußtseins vorgeschlagen, wie sie von den folks selbst - noch vor der szientifischen Einstellung - tagtäglich tatsächlich oder nur in einer verkennenden Ad-Hoc-Konzeption verwendet werden: also eine quasi-private Psychologie. Eine solche Psychologie kam weder der wissenschaftlichen Psychologie als zunächst prinzipiell äquivalent angenommes Modell in die Quere, noch schien es unter dem Primat der Szientifik nötig, sich mit den folk psychologies zu beschäftigen. Es ist nämlich auch nicht so, daß - wie es die cognitive science meint - es nur eine (durch "Induktion" erreichbare) folk psychology gibt. Es müssen prinzipiell so viele Konzeptionen vorausgesetzt werden, wie Individuen existieren bzw. zu einer bestimmten Zeit Modelle entwickelt werden.

Es scheint hier der Methodenpluralismus Feyerabends noch ein Stück weiter getrieben werden zu können. Jetzt sind nicht mehr nur verschiedene Kulturen wissensäquivalent, methodisch sind es auch private "Weltanschauungen". Wenn daher alle Menschen ihre eigenen Psychologien (etwa des Bewußtseins) entwerfen bzw. entwerfen können - , warum sollte diese Möglichkeit nicht auch in jenen Bereich Eingang finden, der, wenn auch exklusiv-plural, festen psychologischen Konzepten verpflichtet ist? Müssen die Psychotherapien (angefangen vom klassischen setting) ihre Ausgangs-Konzepte (ihren Arbeitsrahmen) selbst mit den Patienten im psychotherapeutischen Prozess weiterentwickeln, ja sogar über Bord werfen? Noch mehr: Muß nicht in einer spontanen Analyse ab ovo ein Modell durch den Analysanden/Patienten konzipiert werden, wobei von jeglicher kanonisierter psychotherapeutischer Methodik Anstand zu nehmen ist? -- Auch könnten mit der Einbeziehung der folk psychology in die Psychotherapien philosophische Tugenden gewonnen werden: Mündigkeit, Selbstreflexion und die Explikation des theoretischen Vorverständnisses psychologischer Begriffe.

Nachsatz. Das Spiel läßt sich als Konstruktion ebenso wie als Wurf (wie das Bleigießen der Silvesternacht), als Test wie als Sonntagnachmittagsbeschäftigung anlegen.

(c) Peter Mahr 1999

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

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