mahr'svierteljahrsschriftfürästhetik

1 (1998), Nr.3/Dezember

Commented Criticism

7. Interessiert die Leute im Netz Literatur überhaupt? Zu Internet-Literatur-Wettbewerb Pegasus'98. http://www.pegasus98.de/user/pegasus/index.htm. 26191 Zeichen.

Womit muß der Anfang der Kunst gemacht werden? Diese Frage könnte sich über kurz oder auch länger als Kernproblem sogenannter Internetliteratur herausstellen. Der fruchtbare Moment (Lessing), der effort tout court gleich zu Beginn, l'instant, der alles weitere logisch bestimmt? Für die Zeitkünste - Literatur, Musik, Film, Schaupiel - gibt es eine Reihe historisch eingeführter, sich natürlich ergebender Anfänge: Motto, Vorwort, Stille, Auftakt, Thema, Vorspann, Vorhang. Worin aber besteht der Anfang einer Internetliteratur-Homepage? Zweifellos, für die allermeisten von uns, in der Website-Adresse. Und sie wird uns wiederum über einen Link gegeben. Woran im weiteren nicht gerüttelt werden kann, auch wenn die Buchstaben im Feld noch so groß und farbig daherkommen, ist der "Titel" der Kopfleiste des Browsers. Dagegen relativieren sich die sogemeinten Titel strenggenommen zu Untertiteln.

Zu dieser selten produktiv werdenden, logischen Struktur kommt der psychologische Faktor der Aufmerksamkeit. Bei großem, virtuell unendlichem Datenangebot, jedenfalls so großen Websites wie Pegasus 98, nehmen wir uns weniger Zeit, als vielleicht zum eigenen Vorteil gereichte - auf jeden Fall: als von den ProduzentInnen der Webpages erwartet wird. Eile paart sich also mit einer primordial gegebenen Unaufmerksamkeit, der die Einstiegsseiten mit Einfällen in Richtung Warenästhetik begegnen. Das ist aber wieder zur ästhetischen Sensitivität, wie sie Kunstwerken adäquat ist, kontraproduktiv. Diesem Dilemma kommen nur die wenigsten bei. "Was für ein prächtiger Samstagvormittag", mit dem "die stadt" von Jens-Uwe Seyfarth startet - http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr291/start.htm - , ist daher unfreiwillige Parodie auf pulp fiction. Das QUADRAT-FRAGMENT von http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr253/index.htm setzt mit einem interessanten Aufbau im rechten oberen Drittel des Gesamtbildes ein - dann wird es aber langweilig. Es läßt sich konstatieren: Wenn es schnell interessant wird, dann muß die Sukzession des Gebotenen auch entsprechend mithalten und dann sollte etwa eher mit größerem Schriftgrad geschrieben werden. Wie bei einigen anderen Sites brauchen auch die "Bildanagramme" auf http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr213/index.htm zusätzliche Programme zur Verwendung, ja überhaupt zum Beginnen, hier etwa den Schock-Wellen-Einsatz. Wieder ein Plug-In für http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr276/index.htm mit dem Titel "Butz & Schopenhauer in: Das Neue". Das http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr142/index.htm von Günther Melzer beginnt schon aufmerksamkeitsheischend in der Liste sämtlicher Pegasus-Links: >>>ZUM TEUFEL MIT ALL DEM<<<, wobei ">>>" aufblinkte, sodaß sich eine Gedankenschrulle kurz fragt: Ist das Kopier-Ctrl im richtigen Moment gedrückt? Wieder einmal ein witziger Beginn, dann aber ein Roman im Inhalt so konventionell, daß dann sogar noch die Seiten des herbeigewünschten (?) Buches abgebildet werden. Der schwierige Einstieg über die "Landkarte der Augenblicke" von http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr103/index.htm, upgedatet am 23. 1. 1999 wird nicht belohnt. Hier, wie oft, kein Einstieg möglich: http://www.ulm.netsurf.de/~rvuine/, das sich "Brightsite. Blödsinn als Kunstform" nennt und graphisch aufwendig daher kommt. Aber bei dunkelblauer Schrift auf Schwarz hört sich dann der Spaß auf, wenn er wie hier nicht zusätzlich kodiert ist. Wie wenig Inhalt mit Form zu tun haben (nach der klassischen, nach wie vor gültigen Maxime), zeigt Der Poet, http://www.goscm.de/DerPoet/, mit billigen Gedichten und einer aufwendig designten Page. Zu klein gewoben ist der Beitrag http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr245/index.htm, das "web of love - die lyrikmaschine der liebe".

Der zweite Preis ging an http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr113/index.htm - Der Trost der Bilder. Das Produktionsduo gibt sich wie folgt aus: Jürgen Daiber (Text), Jochen Metzger (grafische Umsetzung). Es handelt sich um computeranimiertes Schriftdesign als Opener. So wandelt sich "Der ToT der Bilder" zum "Der Trost der Bilder". Ist damit auch ein Sollen gemeint? Dann würde der Trost nur über die Ergänzung einer über Internet gesteuerten Schriftvermittlung gespendet werden können - eine theoretisch unhaltbare Ansicht. Es erscheint bei Klicken auf Plug-In für Macromedia Flash die Web-Site http://www.excite.com/games/online_games/. Da mindestens so anspruchsvolle Einreichungen das komplette Set mitzuliefern imstande sind, erfolgte hier wie sonst der frühe Ausstieg. Aus Fairness wenigstens Susanne Berkenhegers Beschreibung: "Jürgen Daiber und Jochen Metzger treiben in 'Trost der Bilder' ein widersprüchliches Psychospiel mit dem Leser. Ein finsteres Männergesicht verspricht dem Leser Erfolg, Geld und sexuelle Erfüllung - und zwar mittels der Psychographie. Sobald er mehr darüber erfahren will, belehrt uns ein strahlendes Frauengesicht, daß Psychographie Müll sei, die schönen Frauen und Männer immer schon vergeben und prophezeit: 'Sie werden sterben.' Geschichten sollen einstweilen trösten. Wer zuvor ein paar Fragen beantwortet, erfährt, welche Trostgeschichte für ihn am besten geeignet ist. Der Trost der Geschichten liegt nun darin, daß nichts passiert. Die sich ankündigende Katastrophe tritt nicht ein oder bleibt nahezu folgenlos. Die geschilderten Nicht-Ereignisse zeugen von genauer Beobachtung und sind ebenso präzis geschrieben. 'Trost der Bilder' ist graphisch perfekt inszeniert und schafft - zusammen mit Text und Ton - eine glänzende, kühle Oberfläche, unter der es ganz leise zu knirschen scheint."

Auch bei http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr147/index.htm - dem zweiten der zwei Sonderpreise - habe ich die Geduld verloren. Bastian Böttcher kündigt sein "Looppool - Hyperpoetry" so an: "In ca. 2 Minuten ist er da: (Wenn Sie das Shockwave Plugin haben)" und "falls Sie das Plug-In brauchen", steht schon http://www.macromedia.com/shockwave/download/ bereit und eine längere Gebrauchsanweisung, die ein weiteres proceeding für erläßlich erscheinen läßt: "Wie funktioniert der Looppool? Der User kann sich beim Looppool mit einer beliebigen Taste der Tastatur durch einen verzweigten und verflochtenen Text- oder Musik-Titel navigieren. Wenn der Looppool gestartet wird, erscheint auf dem Bildschirm übersichtlich seine Hypertext Struktur in Form eines Ornamentes. Durch Anklicken des Startbuttons beginnt die Musik und mit ihr der Text. Ein dunkelroter Curser zeigt dem User immer die gegenwärtige Position im Hypermedia Geflecht an. Der Verlauf des Text- oder Musiktitels kann nun durch Verändern der jeweils nächsten Kreuzung beeinflußt werden. Nur durch Tastendruck auf der Tastatur kann der User die Weichen für Text und Musik stellen. Als Auswahlhilfe steht auf jedem Pfad ein für den Weg markantes Stichwort. Die Kreuzungen zeigen immer genau an, welcher Pfad gerade angewählt wurde. Wenn die Weiche einer Kreuzung vom Benutzer nicht durch Tastendruck verändert wird; läuft der Text- und Musiktitel immer geradeaus über die Kreuzpunkte. So ist es möglich, daß der Titel in voller 32 Takt Rapsong-Länge 'linear' abläuft, wenn der User nicht in den Ablauf eingreift. Durch die Eingebundenheit ins Hypertext Gefüge ist es möglich, daß das selbe Textfragment verschiedene Bedeutungen haben kann. Deshalb stecken in den 32 arrangierten Textfragmenten X verschiedene 'Versionen dieser Verse'. Um alle Feinheiten herauszuhören (wenn das überhaupt möglich ist), sollte man sich in Ruhe mit guten Kopfhörern oder einem Computeranschluß an die HiFi-Anlage vor den Rechner setzen und sich auf die Herausforderung einlassen. Viel Spaß! Bitte etwas Geduld! Das Warten lohnt sich!!! Falls Sie sich die Wartezeit vertreiben wollen, lesen Sie hier 'Computec'! - Ein linearer Rap Text des Autors: ... ". Susanne Berkenheger in ihrer Laudatio http://www.pegasus98.de/laudatio.htm: "Mit dem Looppool, graphisch als Ornament dargestellt, läßt sich ein Rap steuern. Parallel laufende Erzählstränge können jederzeit neu kombiniert werden, und so dem Rapsänger neue Bedeutungen in den Mund gelegt werden. Aus 'du stellst die Weichen, so wie du sie willst, du hast die Wahl und die Visionen' kann bei der nächsten Umdrehung werden: 'du stellst die Weichen, da kommen all die süßen Sachen, Rumkugeln und all das auf den Tisch'. Bastian Böttcher hat mit dem Looppool noch Größeres vor. Zuhörer sollen zu Autoren werden und eigene Text- und Taktteile beisteuern können. Die Jury fand den Looppool zukunftsweisend."

Ein Vergleich mit den Beiträgen auf anderen Servern ist aufschlußreich. Dazu sei auf die Schreibweise der URLs beider Gruppen hingewiesen. ”Briefe vom Spielplatz” auf http://www.screenhouse.de/mfreise/pegasus98/indexx.html bringt zum Beispiel folgenden Text: "pulp / disco 2000 (zweitausend [fuer stefan]). wir wurden mit einer stunde abstand geboren / unsere muetter sagten, wir koennte schwester und bruder sein / dein name ist deborah / deborah / es hat dir nie gepasst / oh / sie sagten / wenn wir erwachsen sein wuerden / wuerden wir heiraten und uns niemals trennen / wir haben es nie getan / obwohl ich oft daran gedacht habe / oh deborah / kannst du dich erinnern / ... " Vieles wie dieses geht über persönliche Homepages nicht hinaus. Das kann für den Bekannntenkreis gut reichen - aber für ein Literaturprojekt? Das betrifft auch die auf http://www.stud.uni-muenchen.de/~martin.amling/poems/poems.htm angesiedelten wenig ambitionierten, konventionellen Gedichte. Zumindest macht sein Programm Spaß. Wird etwas "weg"geklickt, taucht später etwas anderes auf: eine Schrift, ein Gedicht. Wenn ich dich liebe, was geht's dich an!, sagte Nietzsche. Umgekehrt: Wenn ich mit Pornographie beworfen werde, geht's mich etwas an. Soviel zu Links auf Erotik-Sites. Oder die große private Homepage mit Lebenslauf (Steckbrief, Datenprofil) und einigen Dutzend konventionellen Gedichten von Peter M. Röhm: http://www.jura.uni-tuebingen.de/~s-rop2/. So gehört auch die Holocaust Homepage (?) http://www.hagalil.com/shoah/holocaust/id-js0.htm, das sich dem "Gedenken und nicht vergessen Jom haShoah 5758" widmet, hierher. Es wird das objektive Anliegen über den schweren ornamentalen Ansatz hinaus nicht klar, worauf, wie immer im Internet - wenn überhaupt, sich dann die Neugier anstelle des Interesses meldet, der Voyeurismus anstelle von Betrachtung und Rezeption. - Vergleiche dazu den Publikumspreis Adventures of the Jewish Submarine under the Command of Captain Chaim Piast" unter http://www.webkultur.com/piast-d/ von Chaim Piast.

Vieles konnte nicht gefunden werden oder ist inzwischen offline: http://home.t-online.de/home/ondine/, poetry and fiction by Sarah Ines; der Internet-Kettenroman http://www.orf.at/hunst-stuecke/roman; http://home.t-online.de/home/roy.goldschmitz/index.htm, der Gedichtebasar; Das Internet - Wie alles geschah (http://home.t-online.de/home/dream_team/frame.htm), Die Jacobs-Licht-Frau (http://members.aol.com/Velvet9058/index.htm). Oder die 40 Seiten und mehr von http://www.designzentrum.de/pegasus/pegasus.htm, die abstürzen.

Griechische Reise, von http://www.netcologne.de/~nc-ramiscan/ zu http://www.ecce-opera.de/griechen/index.htm umgeleitet, kommt der Titel noch einmal innerhalb des Romanmenüs in einem schönen Lila. Diese Farbe könnte die Message des Titels sein. Im Kapitel 27: "Lärm mordet Gedanken" oder "dialektales Beischlaf". Die Sprache bleibt stilistisch vereinzelt, ist aber nicht besondert. Der Roman ist gut gestrickt und übersichtlich aufgemacht. Wieso können Bücher nicht so gemacht werden. Doch ist die Tradition der Romanform seit Jahrhunderten so komplex geworden, daß hier besonders eine netzspezifische Formüberlegung nötig wäre. Von (!) wysiwyg://101/http://userpage.fu-berlin.de/~ortmann/ zum gesponserten Site http://www.berlinerzimmer.de/ortmann/ leitet die Dichterin Sabrina Ortmann mit Prosa, Lyrik, Journalismus, dann auch erotischer Literatur. Mitunter im Gestus persönlicher Mitteilungen gehalten, spürt man hier immerhin den frischen Wind, der die Vernetzung über persönliche Bekanntschaften mit KollegInnen mit sich bringt. Diesen Realaspekt, von dem das partiell TV-derivative Internet eben auch geprägt ist - auch wenn er für Literatur nicht ausreicht, könnten viele der Beiträge gut vertragen. Das Spielerische scheint dem Internet zu entsprechen. Ob mit einem Fragespiel gestartet wird - Urs Honeggers http://www.door.ch/azafata/ - oder einem Galändespiel http://www.khm.de/~oblaum/osterinsel/ - offen und von den Projektanten unbehandelt bleibt der Status des Spiels für die Literatur.

Es haben sich auch einige personal pages in das Pegasus-Environment verirrt, etwa die Seiten gegen Gewalt von http://sonnenfee.com/, die Stefani<e> ins Netz hängt, 1962 im Jahr des Tigers geboren, Sternzeichen: Steinbock, Niedersachsen, geschieden. Man landet bei ihren Angeboten, Homepages zu erstellen, aber nicht bei Literatur. Oder die kollektive Homepage Das Virtuelle Wohnzimmer, http://kel.goe.net/, des Studenten-Wohnheims Kellnerweg in Göttingen. Sinnvolle Sache, aber von Literatur keine Spur. Oder http://www.koeln.netsurf.de/~JanUlrich.Hasecke/GenerationenProjekt/Editorial.html - hier sagt die Adresse schon viel. Oder schon etwas kommerzieller ausgerichtet: DAILY IVY - Das tägliche Cartoon- und Satireupdate, auf http://members.aol.com/ivycam/, das AmericaOnLine-Parodien mit Cartoons anbietet. Manches geht einfach vielleicht ohne schlechte Absicht am Thema vorbei. Multimedial und nicht primär der Literatur widmet sich die Bild-Ton-Komposition "Zwischenton" von Rainer Masa http://www.masa.de/ZTframes.htm

Andere Einreichungen sind geradezu schamlos. Nach deren Art könnte sich jede Homepage, bei der nur irgendwie Wörter vorkommen, Literatur nennen. Etwa wenn unter http://www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Projekte/Internetseminar/Theorie/root/start.htm theoretische Häppchen von Internet-Theoretikern wie Ted Nelson, John Perry Barlow, Volker R. Grassmuck, Geert Lovink, Douglas Rushkoff angeboten werden, um sogleich mit Links weiterzuleiten. Oder wenn sich bei http://www.skyview.de/indexdeu.htm gleich einmal das direct banking der Frankfurter Allgemeinen Sparkasse anbietet, oder - http://www.aec.at/residence/lastentry/index.html - von Last Entry ... Bombay, 1st of July... irgendwie zum Apple's Animationsprogramm QuickTime geführt wird. Hierher gehört auch die Virtuelle Schreibwerkstatt, einem halbkommerziellen Unternehmen einer Volkshochschule, von "anton vagner, auch bekannt unter dem künstlernamen dono freimut": http://www.polycollege.ac.at/sw/ - einen klar gekennzeichneten Beitrag zu Pegasus sucht man hier vergebens. Die Webpage http://www2.rz.hu-berlin.de/inside/linguistik/institut/syntax/mind/mindssc.htm in allen Ehren, aber was haben die Online Lectures zu Linguistik als Kognitionswissenschaft von Norbert Fries mit Literatur zu tun? Es läßt sich auch schwer begreifen, wie http://cip.physik.uni-bonn.de/ScienceSite/stimmbruch/, das den Stimmbruch eines Beiträgers schwerpunktmäßig von Jan. 84 bis Dez. 84 zu Gehör bringt, mit Literatur in Verbindung zu bringen ist, es sei denn, man setzt besonders auf das ermunternd freundliche "Auf Wiedersehen" zum Schluß.

Es wurde http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr184/start.htm preisgekrönt, "Die Aaleskorte" (Aal-Eskorte), der von Frank K<lötgen>. Gen (Text) und Dirk Günther (Produktion) eingereichte Beitrag, wie die Homepage die Credentials verzeichnet. Der Back-Button führt nur auf ganze Bild-Wort-Sequenzen zurück. Irgendwann beginnt der Pfeil im Bild zu stören, wenn, wie hier, nur das Anklicken der Bilder weiterbringt. Den Autoren ist nicht vorzuwerfen, daß die Elemente des Storyboards auf Hamburg getrimmt sind: Aal, Koketterie mit Reeperbahn-Slang. Die Textzeilen, deren Umfang kaum 20 Worte hinausreicht, machen auf einfachstes, holzschnittartiges Deutsch. Fallfehler wie “die tobende Aal” sind ebenso einkalkuliert wie Schlüpfriges, eindeutig Sexuelles, auch im Bild. Die Figuren sind leicht androgyn gestaltet. Bild und Text überschneiden sich nur partiell, lassen einmal das Eine, dann das Andere übersehen. Auch wenn fast nur Fotos gescannt sind, hat der Ablauf - 6,9 Milliarden Kombinationsmöglichkeiten werden angegeben - , neben Film, am meisten mit Comic Strips zu tun. Allerdings können die Bilder mit den Texten, einmal aus dem Menü "zu Beginn" zusammengestellt, nur hintereinander angeklickt werden. Dem Menü vorangestellt sind in Paßfotos der Erzähler, der Fischhändler, eine Frau namens Ölig. So wird das Narrativ sichergestellt. Dann kommen die besseren Bilder wie etwa auch einmal ein frame eines Comic Strips (frame: auch Terminus für ein Bild eines Comic Strips). Jurorin Susanne Berkenheger spricht von einem Film, den man sich selbst zusammenstellt (in ihrer über www.pegasus98.de erreichbare Laudatio auf die Preisträger, gehalten bei der Preisverleihung am 22. November 1998 im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe):

"Die Aaleskorte, ein Bilderdrama in 20 Szenen, sucht Regisseure, die diese Szenen abdrehen. Ein schrilles Schauspielerensemble wartet schon darauf: ein Aal, ein Aalverkäufer namens Hohmännchen, der kindliche Erzähler, die Ölig und eine Reihe von Kindern, die den Aalmythos erzählen. Anhand von Regieanweisungen, wie 'Hohmann bereitet die Hinrichtung vor', 'Der Erzähler verstümmelt den Henker' oder 'Die Ölig stellt sich ihrer Schuld' (Beispiele aus Szene neun) kann der Zuschauer-Regisseur entscheiden, was er sehen will, welche Perspektive, die gleichzeitig eine bestimmte Bedeutungsebene ist, er sehen will. Je nach Regietalent versteht er früher oder später, worum es in der Geschichte geht. Zahlreiche Assoziationsmöglichkeiten und Vieldeutigkeiten machen Bezüge auch zwischen den verschiedenen Ebenen möglich und knüpfen das Netz der Geschichte allmählich immer enger. Die Photos überraschen mit abenteuerlich-ironischer Symbolik und kruden Szenerien. Es ist ein Genuß, die Aaleskorte in immer wieder neuem Licht abzufilmen. Am Ende einer jeden Neuverfilmung winkt Hohmännchen, der Aalverkäufer, mit dem Aalkopf goodbye. Beide grinsen, heißt es, nur - so scheint's - jedesmal über etwas anderes."

Doch einen Beitrag als Film zu interpretieren, ist gerade das Problem. Nicht so sehr, weil das Imaginäre des Films einer anderen Ordnung entsprechen kann als das des Blicks in den Monitor - Berkenheger: "Beim Lesen entstehen imaginäre Räume - im Kopf des Lesers. Im Internet, so scheint es mir, wird dieser Raum auf das Internet selbst übertragen und dort, unter anderem weil der Leser dort mitmischen kann, zu einem begehbaren, virtuellen Raum uminterpretiert." Auch nicht so sehr, weil es sich dann nicht mehr um Literatur handelt - eine extreme Poetologie könnte noch den Film als prinzipiell skriptdependente Realisierung eines Typs (Peirce) begreifen. Die noch stärkere Herausforderung besteht in der Frage, ob sich mit der Literatur im Internet "eine neue Kunstform" entwickelt - Richtlinie des Wettbewerbs sei jedenfalls, "'mit den ästhetischen und technischen Mitteln des Internet neue Ausdrucksformen <zu> entwickeln'" (Christian Ankowitsch, Der Internet-Wettbewerb. "Pegasus '98". Nicht rumreden, machen!, in: Die Zeit, 1998, Nr.14; über das Archiv von http://www.diezeit.de). Wie soll sich aber eine neue Kunstform entwickeln, wenn auch in "gestalteter Sprache", wie sie etwa Werbung oder Comic Strips eignet, eine von allen bekannten hohen oder populären, literarischen Formen, keine Abhängigkeit von den bekannten Künsten existieren darf. Dazu kommt das Problem des Subtexts, genauer des hidden texts: angefangen bei der Gebrauchsssprache von Composern über Html und Programmiersprache (die Jury wollte auch die "Programmierung" beurteilen) hin zur Konstruktionssprache der Hardware. Wie hier eine Abgrenzung schaffen, wenn nicht alles am und mit dem Computer schon Literatur sein soll? Dabei geht es nicht nur um ästhetische Fragen, etwa wie sich aus der immanenten Entwicklung der geschriebenen Sprache am Computer Strukturen entfalten lassen, deren ästhetische Dimension offenbar wird: Aussehen, Stil, Erscheinungsweise, Gestaltung. Es geht um kunsttheoretische Fragen, wie sie auch, aber nicht nur aus dem literaturgeschichtlichen Horizont gewonnen werden können: die Offenheit des Kunstwerks im Prozeß, in der Autorenschaft, in der Gebrauch (Interpretation, Verwendung, Reply etc.), in der Strukturalität des Systems (Selbstreflexion des Internets).

Die erste der zwei Sonderpreise ging an http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr266/index.htm, "Permutationen" von "Florian Cramer, geb. 1969, Doktorand der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der FU Berlin". Der User ist dankbar, denn - so Cramer weiter - : "Weil die Programme auf dem Server ausgeführt werden, benötigen Sie weder Java oder JavaScript, noch spezielle Browser-Plugins. ... ". Es handelt sich um eine Präsentation kombinatorischer Dichtung anhand von sechs musterhaft digitalisierten Dichtungen (die Schrift ist ohne Justierung durch den User gebräuchlicher Bildschirmformate etwas klein). Es sei das Menü Cramers wiedergegeben: "Georg Philipp Harsdörffer, Fünffacher Denckring der Teutschen Sprache. Ein barockdeutscher Wortkombinationsautomat von 1654, der "die gantze teutsche Sprache auf einem Blättlein weisen" will. Auf dem "Denckring" können bekannte Wörter nachgestellt, aber auch neue erfunden werden. <-> Here Comes Everybody, A Continuarration of/on Finnegans Wake. Kein rekonstruierter, sondern ein selbstgeschriebener Automat: Auf dieser Seite vermischt und verschachtelt sich der Text des Finnegans Wake zu neuen Kunstwörtern und neuen Erzählungen. Eine tiefe Rekursion in den Finnegans Wake. Endlos können hier potentielle Texte und Wortschätze des Romans gelesen werden. <-> Tristan Tzara, Um ein dadaistisches Gedicht zu machen... ...bedarf es eines Zeitungsartikels, einer Schere und eines Huts zum Mischen der ausgeschnittenen Wörter. Oder man ruft diese Webseite auf und dichtet per Knopfdruck. <-> Quirinus Kuhlmann, XLI. Libes=kuß. In diesem Sonett von 1671 ergeben nur zwölf Strophen mit jeweils dreizehn vertauschbaren Wörtern eine 117stellige Zahl (13!12) möglicher Gedichte. <-> Raymond Queneau, Ein Märchen wie's Euch beliebt. Die Handlung dieses Märchens (von 1967) wird durch multiple-choice-Fragen gesteuert. <-> Juan Caramuel y Lobkowitz, Maria Stella. Ein kombinatorisches Drehscheibengedicht von 1616. <-> Optatianus Porfyrius, Carmen XXV. Das älteste überlieferte Permutationsgedicht, geschrieben im Jahr 330 n.Chr."

Erdiger, weltlicher mutet http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr275/index.htm an: "alle werden glŸcklich", von Patricia Caspari (Text) und Helmut Grusnius (Web-Design), nach der beigegebenen Angabe. Das Projekt wurde am 7. Februar 1999 upgedatet, wobei sich die Frage nach der Bedeutung dieses Umstands für einen abgeschlossenen Wettbewerb stellt. Das Ende lautet so: "Schrillgrüne Riemensandaletten. Die würde sie Brigitte schenken, ihrer besten Freundin." Die Länge der Geschichte scheint gerade richtig zu sein. Daß man sonst oft nicht weiß, wie lang der Text oder das Stück ist, ist hier kein Problem. Die Länge anzuzeigen, ohne redundant zu sein, wäre allgemein auch ein Teil der Kunst einer Internet-Literatur. Die Interaktivität ist eher graphisch (Buttons) als textlich angesteuert. Die sehr einfallsreichen visuals sind farbig und von der Bewegung her sehr, sehr stark. Vergleichsweise ungünstige Schrifttype. Der nette Button erscheint erst, wenn die Maus an das entsprechende Zeichen herankommt. Leider wird der Text, der zu lesen ist, dadurch erschlagen.

Ebenso erfrischend wie zugänglich ist das junggesellenhafte "Deconstructing Lola". Bei http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr230/index.htm handelt es sich um eine sehr klar gestrickte Folge von "Texttafeln". Die graphisch optimale Ausschöpfung ist bemerkenswert. Eine einzige Schrifttype, das gesamte Set der Farben eines frühen Composers, ein Bild zu Beginn aus Tom Tykwers Film "Lola rennt". Die Kopierfunktion läßt sich am Text anwenden - was bei vielen Beiträgen, auch dem Sieger-Beitrag nicht möglich ist. Auch die Indizierung auf der URL-Leiste ist unverdeckt - etwa http://www.pegasus98.de/user/pegasus/beitr230/derrida1.htm - dort: "... Sie liegt zusammen mit Derrida im Bett." Der Beitrag läßt eine versteckte Filmkritik erkennen. Daß Tykwer selber Geld braucht und deswegen Manni seine Freundin Lola darum anrufen läßt, ist, gleich am Anfang, scharfsinnig, wird aber nicht ausgsprochen, sondern gezeigt. Da darf dann ruhig Belehrendes aus dem Linguistikseminar herein. Lola: "Wie steht es um die Intention des Autors?" Jetzt anwortet nicht Derrida, mit dem sie wieder im Bett ist, sondern, im nächsten Frame, ein Stück aus einem Gespräch von Ulrich Herbert mit Alexander Kluge. Es läßt sich bemängeln, daß es nur eine sehr einfache Verzweigungsstruktur gibt - fast nur lineare Abfolgen. Auch hier wird bewußt, daß der Autor nichts dazu tut, um dem User die Größe des Projekts zu zeigen. Lola: "Wie bei Adorno? Derrida: "Lassen wir Adorno hier aus dem Spiel. Dafür ist hier kein Platz." Dennoch ist die metanarrative Verbindung von latenter Filmkritik, Film- und Literaturtheorie, Lektion und Fiktion vom Ansatz her sehr vielversprechend.

Resümee. Es bleiben Entwicklungen abzuwarten. Wird aus der Literatur immanent Neues entwickelt werden? Schrift, Hypertext, Erweiterbarkeit, Permutabilität, Zufallsgenerator, rhizomatische Bibliothek? Eine letztere wird aus- und angesprochen von: Uwe Wirth, Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert's, wer liest?, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Mythos Internet, = es 2010, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S.319-337. Werden sich Schriftsteller einschalten? Bis jetzt interessieren sich Schriftsteller nämlich noch nicht, das läßt sich aus der literarischen Qualität (und aus den Namen) schließen. Niemand spielt sich mit der Länge eines Files - soll es gleich lang, halb so lang sein? Kurz gesagt, die Parameter des Buches werden nicht analysiert eingesetzt. Halbbildung am Weg der Spezialisierung indiziert die Vorherrschaft der Formen Roman und Gedicht. Dafür tröstet, daß das gegenwärtig herrschende Doppelframe-Design kaum angewendet wird. Empfehlung an Andreas Okopenko, er möge eine Internetversion seines 1970 im Druck und 1998 auf CD-ROM sehr gelungenen "LEXIKON einer sentimentalen -> Reise zum Exporteurtreffen in -> Druden ROMAN"<s> einrichten und einreichen. Auch von Elfriede Jelinek ist bekannt, daß sie sich mit Computer und Literatur beschäftigt. Und wieso nicht Ingomar von Kieseritzki?

Wie nicht verwunderlich, tut sich das ganze Spektrum des Internet auf: persönliches Anliegen, Freizeitproduktion, Business, Gruppenaktivität, Forschung, Archiv und eben Kunst. Doch während die Singularautorenschaft nicht die Basis der Innovation einer Internetliteratur abzugeben scheint, können letzten Endes nur Autoren Schöpferisches hervorbringen - und seien es Kollektivautoren! Worin besteht aber die literarische Qualität, wie sie für das Internet spezifisch ist? Wenn diese Spezifität von der Jury, der am technischen Fortschritt und an der Finesse der Ausführung sehr viel liegt, (noch) nicht formuliert werden kann, wie Berkenheger zugibt, wie sollen die "Autoren" wissen, wo anzusetzen ist? Wenn aber die Autoren nicht die entscheidenden Impulse der neuen Dimension Internetliteratur geben, wie soll die Jury die Erfahrung gewinnen, um einen Fortschritt zu erzielen? Fürwahr, ein Münchhausen-Dilemma! Jedenfalls scheinen die Richtlinien etwas zu schwammig ausgedrückt. Eine der Konsequenzen ist daher die Zumutung für das Publikum, auf Homepages geführt zu werden, die offensichtlich nicht für den Wettbewerb ausgearbeitet oder keinen direkten Bezug zu einer literarischen Aufgabe aufnehmen. Vorschlag: Wieso nicht die Beiträge weiterhin komplett versammeln, aber nach der Nähe zu den Richtlinien indizieren? Die einzige Unterscheidung, die am Pegasus-Server gemacht wird, ist die zwischen Beiträgen auf dem eigenen Server und jenen auf fremden Servern. Das ist, neben der Kür der ersten Drei oder Vier, zu wenig! Zudem: Wenn alle der 270 Beiträge des von Die Zeit mit IBM, ARD online, Radio Bremen seit 1996 veranstalteten Wettbewerbs online gestellt werden, dann müßte auch irgendeine User-Beteiligung eingeteilt sein: User-Preis. Insgesamt wirken die Beiträge unbetreut - etwa so, wie bei vielen kein zurück auf die Pegasus98-Page möglich ist. Und wieso sind updates nach deadline und Jury-Entscheid noch möglich? Und wo ist der Presserückblick, sind die Presse-Clips? Leider ist die Nachbetreuung, was die Angabe der Besprechungen, Rezensionen oder etwaiger Berichte von der Preisverleihung betrifft, nicht vorhanden. Oder habe ich etwas übersehen?

Doch vor aller Objektivierung: Scheinen wir nicht viel mehr persönliche Erfahrungen austauschen zu müssen? Ist es nicht bemerkenswert, wie persönlich, etwa mit Verfolgungsgefühlen, Berkenheger die Situationen echter und Quasi-Kommunikation erlebt hat: "Eines ist sicher: 'Was will der Text mir sagen?' wäre nicht mehr das zentrale Problem. Vielmehr würde mich die Frage quälen: Was hat dieser Text mit mir vor? Wie komme ich wieder raus? Was kann ich tun? Und was weiß der Text noch von mir? ... Labyrinthartige Hypertexte wollten begangen werden, andere suchten Leser, die Fragmente zusammensetzten, Textmaschinen warteten auf Lieferanten von Wortmaterial, um es nach Belieben zu neuen Texten zusammenzusetzen. Ein Multi-User-Dungeon (MUD) lud seine Leser ein, nach Einarbeitung in die Befehlsstruktur des MUD eine Spielerfigur in seiner Abenteuerwelt zu werden und neue Räume zu programmieren. Sphinxartige Seiten warteten - manche immer noch - auf ihre Entschlüßler. ... Gesprächspartnern ... manche auf Anhieb sympathisch, andere bockig, schüchtern oder dreist. ... Wenn ich mich länger darin <im virtuellen Raum> aufhalte, stelle ich nicht selten fest, daß ich beobachtet werde, daß das Programm sich merkt, was ich tue, von welcher Seite ich komme, auf welches Bild ich zeige, welchen Link ich klicke."

Peter Mahr (c) 1998

mahr@h2hobel.phl.univie.ac.at

VISTA

EDITORIAL